Viele, zu viele Hochbegabte leben unter ihren Möglichkeiten


Oscar-Picazo_1

Bild / Picture thanks to © Courtesy of Oscar Picazo (Las Vegas)

 
 
 

Viele, zu viele Hochbegabte

 

leben unter ihren Möglichkeiten

 
 
 

Von Çiğdem Gül 

22. September 2016 

 

Die Mehrheitsgesellschaft, Schul-, Hochschul- und Arbeitswelt assoziieren mit Hochbegabung Privileg, Erfolg und glänzende Karriere des Trägers. Welch´ eine Ironie, dass ausgerechnet sie diejenigen sind, die wiederum mit ihrer falschen Vorstellung über die Hochbegabten und mit ihren herkömmlichen und auf Mittelmaß (als das vermeintliche Maß aller Dinge) ausgerichteten Maßstäben die Mehrheit der Hochbegabten daran hindern, ihr Ich auszuleben, glänzende Leistungen zu erbringen und Erfolg zu haben.

Die Mehrheit der insbesondere spät erkannten Hochbegabten wachsen in der Arbeitswelt nicht über ihre Grenzen, sondern bleiben unter ihren Möglichkeiten. Das liegt nicht an ihrer fehlender Motivation, Leistungsbereitschaft, Kreativität – auch in der Lösungsfindung -, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen, sondern an Irritation, Unsicherheit, Vorurteilen und folglich Hindernissen der durchschnittsbegabten Kollegen und an der Mehrheit der – auch narzisstischen und psychopathischen – Führungskräfte.

Im Zuge der Globalisierung und des folglich verschärften Wettbewerbs gehören zu den größten Herausforderungen für national und/oder international agierende Klein- und Mittelstandsunternehmen sowie Konzerne, fähige und sehr gut qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen und sie langfristig zu halten. Unternehmen, die ihr Bestehen, ihr  Gewinnmaximum und ihren Erfolg nicht mittelfristig, sondern langfristig planen und anlegen, begeben sich gerne dem „War for Talents“. Sie „kämpfen“ darum,  die besten Talente für sich zu gewinnen. Für den Erfolg im „War for Talents“ ist zunehmend ein berufliches Umfeld entscheidend, in dem die Mitarbeiter ihre Persönlichkeit entfalten können. Das Gehalt alleine ist also für zukünftige Mitarbeiter weniger attraktiv geworden. „Teams sind dann besonders erfolgreich, wenn es gelingt, aus guten Individualisten eine Einheit zu formen. Das gilt besonders für hochbegabte Kollegen.“ Vgl. das Buch des hochbegabten Managers Maximilian Lackner, ‚Talent-Management spezial: Hochbegabte, Forscher und Künstler erfolgreich führen.“ [1]

Hochbegabte sind ein Segen, eine große Chance und ein seltenes Glück für jedes Unternehmen. Entscheidend ist jedoch, dass die Vorgesetzten und/oder die Führungskräfte in der Lage sind, dies zu erkennen und Hochbegabte richtig zu führen. „Da Hochbegabte daran interessiert sind, sich und das Unternehmen weiterzuentwickeln, sollte man ihnen frühzeitig eine Perspektive aufzeigen. Mit diesem Ziel vor Augen werden sie sich mit vollem Einsatz dafür einsetzten – und dem Unternehmen großen Nutzen bringen.“ [2]

„Normalbegabte verbinden mit einem Gestaltungswillen oft einen Führungswillen bzw. missinterpretieren den Gestaltungsdrang (der Hochbegabten) als Versuch, die Führung zu übernehmen, ja regelrecht zu putschen. Deswegen wird Hochbegabten oftmals unterstellt, sie wollten sofort an die Macht, ohne quasi von der Gruppe oder dem `System´ dazu berechtigt worden zu sein. Also müssen sie als Neue in der Gruppendynamik ganz schnell bekämpft oder kaltgestellt werden, weil sie die im Laufe der Vergangenheit hergestellte Hierarchie gefährden. Normalbegabte sind oft irritiert, wenn sie merken, dass Hochbegabte mitnichten die Führung wollen, sondern nur Prozesse verbessern möchten. Oft wollen letztere nur in Ruhe ihre Arbeit tun. Dass sie dabei ganz selbstverständlich Verbesserungspotential entdecken und die Optimierung sofort umsetzen wollen, empfinden sie als völlig normal und unauffällig. Das ist nicht mehr als das Lösen eines Rätsels: Es macht Spaß und wird als Herausforderung gesehen, ohne jeden Gedanken, diese eine Idee zu instrumentalisieren, um beispielsweise andere Ziele (z. B. mehr Geld, Führungsmacht oder Privilegien) zu erreichen.“ (Vgl. die Studie der Universität Bochum 2013) [3]

Es ist wissenschaftlich bewiesen, [4] dass in der Wirtschaft bzw. Arbeitswelt die Spitzenpositionen überwiegend von kranken Narzissten und Soziopathen mit selbst wahrgenommenem grandiosen „Ich“ besetzt sind, die nicht mal ein Hauch von Kritik und Verbesserungsvorschläge dulden; geschweige denn, die Existenz eines Hochbegabten im Team ertragen können. So kommt es vor, dass Hochbegabte missverstanden, beneidet, ausgebremst, sanktioniert und gar gemobbt werden. Auch dort, wo es keine Narzissten und Soziopathen gibt, kann dies passieren. Das kann für einen Betroffenen fatale Folgen haben.  Aber auch für die Gesellschaft, die solche Leuchttürme instinktiv oder absichtlich selbst auszulöschen versucht.

Hochbegabte werden oftmals in der Matrix der Gesellschaft, des herkömmlichen Leistungssystems durch Durchschnittsbegabte, Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung und Soziopathen ausgebremst und sanktioniert. Auf die Bedürfnisse von Hochbegabten werden selten Rücksicht genommen. Die Tatsache, dass Hochbegabte sich ständig in die Schablone des Mittelmaßes pressen sollen und müssen, kann sie auf Dauer sehr belasten und krank machen. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass insbesondere die spät erkannten Hochbegabten eine lange Zeit Trauer, auch Trauer um sich selbst, in sich tragen. Sie wollen nach der Trauerzeit und um verpassten Chancen nun ihre Flügel ausbreiten und in ihrem Tempo „fliegen“. Ihnen werden die Flügel jedoch von Anderen schnell gebrochen. Viele Hochbegabte müssen immer wieder ihre Flügel reparieren oder sie neu wachsen lassen. Sie wachsen zum Glück sehr schnell nach…:-)

Die Meinungen gehen sehr weit auseinander, wenn es darum geht, ob man in der Arbeitswelt die eigene Hochbegabung preisgeben sollte oder nicht. Ich persönlich würde die eigene Hochbegabung beim Lebenslauf nicht erwähnen, auch wenn man diesbezüglich eigene Blogs und Webseiten im Internet hat. Nach Antritt des Arbeitsverhältnisses würde ich es erwähnen, wenn man darauf angesprochen wird. Und man wird recht schnell darauf angesprochen oder reagiert. Das Anderssein wird von Kollegen sowieso gespürt und erkannt, auch wenn man als Hochbegabter den Mund nicht aufmachen würde und sich tarnen würde. Anderssein wird leider oft als irritierend und störend wahrgenommen, nicht als bereichernd. Das gilt auch, wenn der Hochbegabte sich im Team sehr gut angepasst und sehr gute Leistungen erzielt.

Viele, insbesondere vielbegabte und/oder spät erkannte Hochbegabte weisen einen Zick-Zack-Lebenslauf auf; d. h. sie haben auffällig in vielen und unterschiedlichen Berufen und Branchen gearbeitet, jedoch nicht über viele Jahre.

Es stellt sich die Frage, wie es den Hochbegabten gelingen kann, ihr „Ich“ in der Hochbegabung und in allen Lebensbereichen in Vielfalt darzustellen und auszuleben, ohne großen emotionalen, gesundheitlichen, finanziellen Schaden davon zu tragen. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden.

Hochbegabte, die ihre Begabungen nicht missbrauchen, tragen eine sehr große Verantwortung für die Gesellschaft. Nun ist es an der Zeit, dass sowohl die Gesellschaft als auch die Leistungssysteme mit ihren Akteuren zunehmend etwas für die Hochbegabten tun und ihnen etwas zurückgeben. Es beginnt bei Respekt, Vertrauen, Akzeptanz und Chancengleichheit.

 

© Çiğdem Gül

 

Anmerkung:
Ein schlechter Chef ist nicht automatisch ein Narzisst, Soziopath oder Psychopath. Eine Diagnose darf ohnehin nur ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut stellen. Ich habe in meinem obigen Fachartikel ganz bewusst mit direkten und sehr deutlichen Worten eine Kritik an die Gesellschaft und Leistungssysteme ausgeübt. Ich wünsche, dass diese von meinen Leserinnen und Lesern auch so aufgefasst wird. Es geht mir in erster Linie nicht darum, mit dem Zeigefinger auf einen Schuldigen zu zeigen, sondern die Gesellschaft dazu einzuladen, die eigene Haltung und Handlung zu überdenken, zu reflektieren und sich mit dem Thema der Inselbegabten undd Multitalente auseinanderzusetzen, damit die eigene schizophrene Haltung ihnen gegenüber die Chance erhält, abgeschwächt oder gar eliminiert zu werden. Eine authentische, achtsame und wohlwollende Begegnung, Beziehung (egal welcher Art) und/oder berufliche Zusammenarbeit setze ich auf beiden Seiten voraus. Schließlich hätte sowohl die Gesellschaft als auch die Hochbegabten eine win-win-Situation, wenn beide Seiten zunehmend aufeinander zugehen würden und ihre Handlungen auf bedürfnisorientierte Dialoge ausrichten würden.

 
 
Oscar Picazo_3

Bild / Picture thanks to © Courtesy of Oscar Picazo (Las Vegas)

 
 
 

Fußnoten

 

[1]  Buch: ‚Talent-Management spezial: Hochbegabte, Forscher und Künstler erfolgreich führen“ von Maximilian Lackner.  goo.gl/sswyJ8

[2] Buch: „Talent-Management spezial: Leistungsträger führen und profitieren“  von Maximilian Lackner. goo.gl/HiKu3p

[3] Die Studie der Ruhr-Universität, Fakultät Psychologie, Bochum 2013 – Forschungsbericht: „Zusammenhänge zwischen Hochbegabung und berufsbezogenen Persönlichkeitseigenschaften“, Projektteam Testentwicklung,  S. 8, 2013, Verfasser: Rüdiger Hossiep, Philip Frieg, Renate Frank (Ruhr-Universität Bochum) & Heinz-Detlef Scheer (Scheer consulting GmbH) http://www.testentwicklung.de/mam/forschungsbericht_bip_hb.pdf

[4] Siehe die Studien der Psychologinnen Belinda Board und Katarina Fritzon zum Thema Psychopathen aus dem Jahr 2005 / Siehe die Forschungsergebnisse der US-Psychologin Deborah Gruenfeld von der Stanford-Universität / Siehe die Studie zum Thema „Psychopathen auf Chefetagen“ des kanadischen Psychiaters Robert Hare (emeritierter Professor der Universität von British Columbia) und seines Kollegen Paul Babiak.

 
 

Weiterführende Literatur

 

Zeit Online: „Narzissten sind in Führungspositionen überrepräsentiert. […]“  http://www.zeit.de/karriere/2015-08/fuehrung-narzissmus-studie

manager magazin,  Ausgabe 25.10.2014:
„Zeitbomben mit Schlips – Psychopathen in der Chefetage“ goo.gl/fZw7UF

Zeit Online: „Führungsstil: Was Chefs mit Psychopathen gemein haben“ – „Studien zeigen: Manager zeigen überdurchschnittlich oft psychopathische Auffälligkeiten. Das macht sie erfolgreich. ..“ Von Daniel Rettig,  http://www.zeit.de/karriere/beruf/2011-09/fuehrungskraefte-chefs-typen

Zeit Online: „Persönlichkeitsstörung: „Auffällig viele Psychopathen werden Chef“
„Sie manipulieren andere, sind erfolgreich – und gefährlich. Überdurchschnittlich viele Psychopathen schaffen es ins höchste Management, sagt der Psychologe Jens Hoffmann.“ goo.gl/8TqLKO

Harvard Business Manager,  August 2009,  von Cornelia Hegele-Raih. Interview mit dem Coach Heinz-Detlef Scheer. „Viele Filme gleichzeitig im Kopf“
http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/d-66114593.html
http://www.harvardbusinessmanager.de/

Wirtschaftspsychologie aktuell 2/2016, 9-12, Nora Schütte & Gerhard Blickle: Psychopathie am Arbeitsplatz – eine mehrdimensionale Analyse. 

Nora Schütte, Gerhard Blickle, Rachel E. Frieder, Andreas Wihler, Florian Schnitzler, Janis Heupel, Ingo Zettler: The Role of Interpersonal Influence in Counterbalancing Psychopathic Personality Trait Facets at Work; Journal of Management; DOI: 10.1177/0149206315607967
 
 
 
 

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>