DEUTSCHLAND: Expertin Andrea Brackmann im Interview


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Andrea Brackmann: „Ich finde die interkulturellen Aspekte von Hochbegabung sehr wichtig.

Viele bekannte Genies haben sich theoretisch und auch sehr konkret für die Gleichberechtigung von Nationalitäten, Völkern und Kulturen eingesetzt. […] Die Philosophin Hannah Arendt oder Albert Einstein engagierten sich intensiv für Flüchtlinge aus aller Welt. Martin Luther King, der intellektuell höchstbegabt war, erreichte Bahnbrechendes im Kampf für die Bürgerrechte der Schwarzen.“

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Andrea Brackmann, 1964 in Stuttgart/Deutschland geboren, ist im deutschsprachigen Raum einer der führenden ExpertInnen zum Thema Hochbegabung und Höchstbegabung, viel zitierte Bestseller-Autorin, Diplom-Psychologin, von 1992 bis 2008 Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Hochbegabung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, spät erkannten und noch nicht erkannten Hochbegabten in Frankfurt am Main.

Seit 2009 erleidet Frau Brackmann mehrfach eine schwere Erkrankung, sodass sie folglich ihren Beruf als Psychotherapeutin nicht mehr praktizieren kann. Seit vielen Jahren von der Öffentlichkeit sehr zurückgezogen, befasst sich sie sich jedoch weiterhin intensiv mit aktueller Hochbegabungsforschung. Ihr neues Buch „Extrem begabt: Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies“ ist ab heute im Handel erhältlich.

Nach 10 Jahren gibt Frau Andrea Brackmann heute ihr erstes Interview. Warum das Gespräch für Çiğdem Gül auch persönlich sehr viel bedeutet, wie Frau Brackmann als Privatperson ist und, was sie über die Erweiterung des Themas Hochbegabung und Höchstbegabung um den interkulturellen Kontext denkt, erfährst Du und erfahren Sie erstmals in diesem Interview.

 
 
 
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Das Interview führte Çiğdem Gül

25. April 2020

 

INTERVIEW

 
Çiğdem Gül: Frau Brackmann, ich freue mich sehr, dass Sie trotz Ihrer seit vielen Jahren andauernden schweren Erkrankung es mir ermöglichen, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. Auf einen solchen Moment mit Ihnen freue ich mich schon seit sieben Jahren.

Darf ich Ihnen das Gespräch mit der Frage eröffnen, wie es Ihnen heute geht und wie es aktuell um Ihre Gesundheit steht?

 

Andrea Brackmann: Vielen Dank, ich freue mich auch über Ihre Einladung zum Interview!

Nach zwei Krebserkrankungen – eigentlich drei, die erste liegt aber schon länger zurück – und jahrelangen Behandlungen ist meine Mobilität aufgrund von Folgeschäden stark eingeschränkt, einen großen Teil meines Alltages verbringe ich im Liegen. Es gibt natürlich schwierige, aber auch bessere Phasen, wo ich wohldosiert in kleinen Einheiten forschen, schreiben oder einige wenige Kontakte pflegen kann.

Dass ich selten Interviews gebe, liegt aber auch daran, dass mir die verkürzte Darstellung komplexer Sachverhalte nicht so sehr liegt. Gerade beim Thema Hochbegabung entstehen da schnell Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Ich finde aber die interkulturellen Aspekte von Hochbegabung sehr wichtig, daher wollte ich dieses Gespräch gerne führen.

 

Çiğdem Gül: Frau Brackmann, ich habe meine Hochbegabung im Jahr 2013 erst Dank Ihrer Bücher und durch die Gespräche mit der Autorin Frau Eliane Reichardt erkannt. Damit haben Sie beide mein Leben nachhaltig positiv verändert. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen, auch über diesem Wege mich bei Ihnen und bei Eliane von Herzen zu bedanken.

 

Andrea Brackmann: Es freut und berührt mich sehr, dass Sie in meinen Büchern so viel Hilfreiches finden konnten. Das Wissen, weiterhin noch Positives bewirken zu können, auch wenn ich nicht mehr als Therapeutin aktiv bin, gibt mir viel Kraft. Besonders schön ist es natürlich, wenn, wie bei Ihnen, das Leben sich dadurch sogar langfristig verändert. Durch das Erkennen der eigenen Hochbegabung kann man viele Besonderheiten, die einen sonst vielleicht verwirren oder verunsichern, besser einordnen, und auch seine Stärken besser nutzen.

 

Çiğdem Gül: Sie haben auch Schauspiel studiert. Welche positiven oder negativen Auswirkungen hatte dies auf Ihre Arbeit als Psychologin und Autorin gehabt?

 

Andrea Brackmann: Schon als junges Mädchen habe ich mich für Schauspiel begeistert und ab meinem zwölften Lebensjahr in Schul- und Jugendtheatern gespielt. Dort konnte ich meine stark ausgeprägten und unterschiedlichen Emotionen zum Ausdruck bringen; beim Theater ist dies ja nicht nur akzeptiert, sondern sogar erwünscht. Die Bühne bietet für das Ausleben heftiger Emotionen zudem eine Art sicheren und geschützten Rahmen.

Etwas Ähnliches habe ich später als Psychotherapeutin erlebt: Während ich mich in freien sozialen Kontakten oft unsicher und orientierungslos fühlte, bewegte ich mich im Rahmen eines therapeutischen Gesprächs mit (mehr oder weniger) festgelegten Abläufen wie ein Fisch im Wasser.

Auch in der Therapie geht es ja meist um den Umgang mit Emotionen. Viele Techniken, die im Schauspiel gelehrt werden, finden auch in der Psychotherapie Anwendung, z. B. Körperwahrnehmung, Entspannungsübungen, Rollenspiele zur Überwindung von Ängsten oder Visualisierung bestimmter Situationen. Ein wichtiger Aspekt ist natürlich auch die Fähigkeit, sich in eine Figur bzw. einen anderen Menschen vollkommen einzufühlen, die Welt praktisch durch dessen Augen zu sehen, ohne jedoch sein Verhalten und seine Wahrnehmung zu bewerten. Das ist meiner Ansicht nach sowohl im Schauspiel und beim Schreiben als auch in der Psychotherapie von elementarer Bedeutung.

Die einzig negative Auswirkung der Schauspielausbildung war vielleicht, dass es mir mitunter schwerfiel, in Therapien über lange Zeit stillzusitzen. Am Schauspiel mochte ich, dass es mich auf allen Ebenen forderte: geistig, emotional und körperlich.

 
 
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Bild / Picture thanks to © 2020 Courtesy of Andrea Brackmann (Frankfurt am Main / Germany)

 

Andrea Brackmann: „Ich finde die interkulturellen Aspekte von Hochbegabung sehr wichtig, daher wollte ich dieses Gespräch gerne führen.

Die Gründung des Intercultural Network For The Highly Gifted halte ich zum Beispiel für einen wichtigen Schritt.“

 
 
 

Çiğdem Gül: Wie haben Sie Ihre eigene Hochbegabung in Wechselwirkung mit Familie und Umwelt in der Kindheit, Pubertät und im Erwachsenenalter erlebt?

 

Andrea Brackmann: In meiner Kindheit spielte meine Hochbegabung keine Rolle. Ich wuchs in unbeständigen Verhältnissen auf, die von vielen Umzügen und Schulwechseln geprägt waren. Erst Jahrzehnte später erfuhr ich, dass ich vor meiner Einschulung lesen, schreiben und rechnen konnte, auffallend sensibel war und andere ununterbrochen mit Fragen gelöchert habe.

Eine Hochbegabung wurde auch in der Schule nicht bemerkt, allerdings empfahlen mich meine LehrerInnen am Ende der Grundschule aufgrund eines allgemeinen Schul-Tests überraschend fürs Gymnasium. Meine Pubertät hatte jedoch verfrüht eingesetzt (11 Jahre) und ich verbrachte viel Zeit mit Jugendlichen aller sozialen Schichten im Jugendhaus. Ich fürchtete, auf dem Gymnasium seien nur langweilige Streber und hoch geistige Leute, ich wollte viel lieber mit den coolen Typen auf die Hauptschule gehen. Davon abgesehen traute ich mir das Gymnasium nicht zu, ich dachte, die Anforderungen lägen meilenweit über meinen Fähigkeiten.

Als Kompromiss schickten mich meine Eltern auf die Realschule. Dort wurde ich aber schnell zur Außenseiterin. Ich hatte völlig andere Interessen und Ansichten als meine MitschülerInnen, stellte merkwürdige Fragen, trug andere Kleidung. Mir selbst war mein Anderssein gar nicht so bewusst, aber von Seiten meiner MitschülerInnen spitzten sich Ausgrenzung und Angriffe immer mehr zu, sodass ich beschloss, die Realschule in der 9. Klasse zu verlassen und auf ein Gymnasium zu wechseln. Dafür musste ich meine bis dahin gerade mal mittelmäßigen Zensuren deutlich verbessern.

Nach einigen Umwegen schaffte ich dann den Sprung auf ein Gymnasium. Die Schuljahre in der reformierten Oberstufe waren die schönsten meiner gesamten Schulzeit: Ich traf erstmals auf engagierte LehrerInnen, in manchen Fächern schrieb ich plötzlich 14 oder sogar 15 Punkte. Das intensive und selbständige Lernen in den kleinen Leistungskursen machte mir Freude, das war für mich vollkommen neu. Auch zu einzelnen MitschülerInnen hatte ich nun engeren Kontakt.

Während meines Psychologie-Studiums begleitete mich noch immer ein vages, unterschwelliges Gefühl des Andersseins und übrigens auch das ‚Hochstaplergefühl‘, das viele Hochbegabte kennen: Immer dachte ich, ich hätte es gerade eben so (mit Glück, Zufall, günstigen Bedingungen) durch die Prüfungen geschafft und irgendwann würde der ganze Schwindel auffliegen.

Selbst als ich bereits mehrere Jahre mit hochbegabten Kindern und Jugendlichen gearbeitet hatte, fiel mir nicht auf, wie viele Ähnlichkeiten es mit meiner eigenen Biografie gab. Erst als hochbegabte Erwachsene zu mir in Behandlung kamen, regte sich in mir langsam der Verdacht, vielleicht selbst betroffen zu sein. Anders konnte ich mir einfach nicht mehr erklären, warum ich mich so gut mit ihnen verstand und ihnen offenbar auch geistig gewachsen war. Dieser Erkenntnisprozess war verwirrend und turbulent, aber auch sehr befreiend.

 

Çiğdem Gül: Frau Brackmann, was ist Ihr größter Traum?

 

Andrea Brackmann: Mein größter Traum ist es, wieder einmal im Meer schwimmen zu können.
Und vielleicht so etwas wie eine „Allianz der Vernünftigen“, die sich gegen jede Form von Gewalt und die Bedingungen, die sie begünstigen, einsetzt – sei es Gewalt zwischen Menschen, zwischen Mensch und Tier oder zwischen Bevölkerungsgruppen und Nationen.

 
 

Çiğdem Gül: „Eines der wesentlichen Kriterien der Hochbegabung ist es, sich permanent selbst zu überprüfen; daher muss ein Hochbegabter bereit sein, zu zweifeln, auch an sich selbst zu zweifeln.

Ich finde, ein Hochbegabter sollte sich sogar darin verlieben, in seinem Komplexitätskarneval und Gedankenbibliothek eine ästhetische Zweifelskapazität zu haben.“

 
 

Çiğdem Gül: Was interessiert Sie persönlich an den Themen Hochbegabung und Höchstbegabung?

 

Andrea Brackmann: Mich interessiert zunächst, wozu das menschliche Gehirn grundsätzlich in der Lage ist. Und das scheint weit mehr zu sein, als man allgemein annimmt. Betrachtet man die unglaubliche Spannbreite der Fähigkeiten bei Genies wie Leonardo da Vinci, Alexander von Humboldt oder Marie Curie, scheinen dem menschlichen Denken kaum Grenzen gesetzt. Auch bei manchen Autisten findet man Fähigkeiten, etwa in Mathematik, Gedächtnis, bildender Kunst oder Musik, die mit normalen Maßstäben nicht mehr zu erfassen sind. Dabei finde ich interessant, durch welche Bedingungen solche Potenziale freigesetzt werden und auch, wie man diese überwältigende Fülle gut handhaben kann. Zudem möchte ich gern wissen, wie die klügsten Menschen der Geschichte die Welt sehen, was sie im Leben wichtig finden, wie sie es gestalten und wie sie mit Schwierigkeiten umgehen. Ich glaube, davon kann ich persönlich und die Gesellschaft viel lernen. Letztlich geht es mir also wohl auch um die Frage, was der Mensch eigentlich ist und welchen Sinn seine Existenz hat.

 

Çiğdem Gül: In Ihrem Buch „Ganz normal hochbegabt“ auf Seite 121 schreiben Sie: „Die Fähigkeit zum Wechsel der Perspektive ist vielleicht eines der zentralsten Merkmale von Hochbegabung.“ Würden Sie diese These bitte näher erläutern?

 

Andrea Brackmann: Hochbegabte neigen zu stark vernetztem Denken, sie betrachten Dinge meist aus verschiedenen Perspektiven. Sie wissen, dass ein einzelner Eindruck nicht ausreicht, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Betrachtet man eine Sache nur aus einer, nämlich der eigenen, gewohnten Perspektive, wird man nichts Neues erfahren, man trägt praktisch Scheuklappen und blickt nicht über den Tellerrand hinaus. Die Fähigkeit bekannte Perspektiven zu verlassen ist eine wichtige Grundlage für Kreativität, also für schöpferisches, erneuerndes Denken.

Ohne den Wechsel von Perspektiven gäbe es keine Veränderungen, keinen Fortschritt, kein Verständnis für andere Menschen oder Lebensformen, keine Ideen für die Zukunft. Gerade von Höchstbegabten und Genies ist bekannt, dass sie sich nicht nur gut in Menschen oder Tiere hineinversetzen können, sondern auch in chemische oder physikalische Prozesse, wie sie z. B. in Pflanzen oder Atomen ablaufen. Künstlerisch Höchstbegabte berichten übereinstimmend, sie würden sich in eine Leinwand, ein Musikstück oder einen Roman gleichsam selbst hineinprojizieren und sich darin bewegen.
Hoch- und Höchstbegabte springen durch die hohe Aktivität ihrer Hirnstrukturen schnell zwischen einzelnen Blickwinkeln hin und her, sie sehen zahlreiche, oft ganz neue Aspekte eines Problems. Andererseits fällt es ihnen manchmal schwer, einen beständigen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Aber der Philosoph Ernst Bloch meint, dass ein scharfer Blick sich nicht nur darin bewähre, dass er alles so klar wie Wasser sehe: „Die Wahrheit ist immer ungenau.“

 
 
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Bild / Picture „A group of gypsies at the Pushkar Camel Fair“ thanks to © Courtesy of Giovanna Aryafara (Bali / Indonesia)

 
 
Andrea Brackmann: „Die Schwierigkeiten im Austausch mit anderen gehören zu den frustrierenden und schmerzlichen Seiten der Hochbegabung. Manchmal hilft der Kontakt mit anderen Hochbegabten und Gleichgesinnten, um dort Stärkung und gegenseitiges Verständnis zu finden. Ebenso wichtig scheint mir die Beobachtung, dass Hochbegabte, […] ihre „Berufung“ finden […]. In den Nachforschungen zu meinem Buch über Genies und Höchstbegabte hat sich dieser Faktor als einer der wichtigsten für ihre Lebenszufriedenheit herausgestellt.“
 
 

Çiğdem Gül: Eines der wesentlichen Kriterien der Hochbegabung ist es, sich permanent selbst zu überprüfen; daher muss ein Hochbegabter bereit sein, zu zweifeln, auch an sich selbst zu zweifeln. Der deutsche Astrophysiker, Naturphilosoph, Wissenschaftsjournalist, Fernsehmoderator und Hochschullehrer Prof. Dr. Harald Lesch sagte einmal, dass er ein großer Freund des Zweifelns sei. Auch ich bin mittlerweile ein großer Freund des Zweifelns. Ich finde, ein Hochbegabter sollte sich sogar darin verlieben, in seinem Komplexitätskarneval und Gedankenbibliothek eine ästhetische Zweifelskapazität zu haben.“ Was denken Sie darüber?

 

Andrea Brackmann: Komplexitätskarneval – ein schönes Wort, das ebenfalls als Umschreibung des häufigen Wechsels von Perspektiven, Meinungen und Plänen bei Hochbegabten dienen kann.

Was den Zweifel angeht, habe ich nicht zufällig an den Anfang meines ersten Buches ein Zitat von C. G. Jung gestellt: „Zweifel und Unsicherheit sind unerlässliche Komponenten eines vollständigen Lebens.“ Für mich war diese Erkenntnis sehr befreiend, denn bis dahin hatte ich das ewige Zweifeln eher als etwas Negatives betrachtet. Peter Ustinov meinte übrigens, man solle sich vor Leuten in Acht nehmen, die überhaupt nicht zweifeln, dies seien oft Wahnsinnige oder Diktatoren. Hätte in den letzten Jahrhunderten oder Jahrtausenden nie ein Mensch an traditionellen Lehren, Autoritäten, gegebenen Umständen oder sogenannten unumstößlichen Wahrheiten gezweifelt, z. B. dass die Erde eine Scheibe sei oder es Menschen unterschiedlichen Wertes gebe, hätte es keine bahnbrechenden Veränderungen und genialen Leistungen gegeben. Zweifel und Selbstzweifel sind ein wesentliches Merkmal von Höchstbegabten und Genies – und übrigens auch ein wichtiger Antrieb für sie. Das Fehlen jeglicher Zweifel führt hingegen zu stark eingeschränkten Sichtweisen und verhindert jegliche Form von Weiterentwicklung, sei es persönlich, wissenschaftlich, kulturell oder gesellschaftlich. Übermäßiges Zweifeln kann Hochbegabten aber natürlich auch zur Last werden, viele brauchen ein gehöriges Maß an Übung, um da eine gute Balance finden.

 

Çiğdem Gül: In der Kneipe ihrer Seele beklagen viele Hochbegabte und Höchstbegabte am Tresen, dass sie von außen nicht verstanden werden. Missverständnisse von beiden Seiten sind vorprogrammiert. Wie kann es Hochbegabten und Höchstbegabten trotz dieses Lebensgefühls gelingen, zufrieden zu sein?

 

Andrea Brackmann: Mit dieser Fragestellung setzen sich ganze Bücher und Studien auseinander. Ich wünschte, ich könnte sie hier in wenigen Sätzen beantworten.

Die Schwierigkeiten im Austausch mit anderen gehören zu den frustrierenden und schmerzlichen Seiten der Hochbegabung. Manchmal hilft der Kontakt mit anderen Hochbegabten und Gleichgesinnten, um dort Stärkung und gegenseitiges Verständnis zu finden. Aber oft reicht das nicht aus; und es kommen ja auch nicht alle Hochbegabten zwangsläufig gut miteinander aus. Ebenso wichtig scheint mir die Beobachtung, dass Hochbegabte, die ihre „Berufung“ finden – also die Aufgaben, die am besten zu ihren Fähigkeiten passen – und ihre Kraft und Leidenschaft voll darauf konzentrieren, darin viel Bestätigung, Freude und Erfüllung finden, auch wenn es mit manchen Kontakten nicht so gut klappt. In den Nachforschungen zu meinem Buch über Genies und Höchstbegabte hat sich dieser Faktor als einer der wichtigsten für ihre Lebenszufriedenheit herausgestellt. Auf dieser Basis entstehen oft auch etwas leichter passende Kontakte mit Leuten, die auf ähnlicher Wellenlänge liegen. Meist sind es zwar eher wenige, dafür aber enge und befriedigende Freundschaften.

 

Çiğdem Gül: Eine Hochbegabung wird – je nachdem, ob sie z. B. zusätzlich in Kombination mit Hochsensibilität oder Autismus und/oder Synästhesie auftritt – individuell unterschiedlich erlebt. Für mich als hochsensible Hochbegabte ist in erster Linie nicht entscheidend, ob mein Gegenüber hochbegabt bzw. höchstbegabt ist und ich mit ihm mein Geist auf hohem Niveau entflammen kann, sondern, ob er den Zugang zur seiner universellen Liebesfähigkeit hat und die Herzenswärme besitzt. Wenn er diesen Zugang hat, entwickelt er die Gefühlssprache und die damit zunehmende Sensibilität, ja vielleicht sogar die Hochsensibilität. In Anlehnung an diese Gedanken möchte ich Sie fragen, warum die Hochbegabung dann in der Mehrheitsgesellschaft und in den herkömmlichen Medien oftmals nur auf Intelligenz, musische oder mathematische Fähigkeiten reduziert wird.

 

Andrea Brackmann: Ich glaube, dass es einerseits wichtig ist, den Begriff „Hochbegabung“ nicht zu weit auszudehnen, sonst wird er verwässert und unscharf. Natürlich sagt hohe Intelligenz im Prinzip noch nichts darüber aus, welche menschlichen und sozialen Qualitäten eine Person besitzt. Für diese Bereiche gibt es eigene Begriffe, wie z. B. den der emotionalen Intelligenz.

Andererseits haben Sie durchaus Recht, das Konzept Hochbegabung umfasst vermutlich weit mehr Dimensionen als nur den intellektuellen, musischen und mathematischen Bereich. Diese Dimensionen untersuche ich in meinem neuen Buch genauer. Auch Jacobsen (1999) spricht in ihrem Buch „The Gifted Adult“ von „multiplen Intelligenzen“, zu der sie etwa auch soziale, motorische oder naturbezogene Fähigkeiten zählt. Diese sind aber schwieriger messbar und daher nicht leicht zu objektivieren und zu vergleichen.

Für mich war es allerdings eine überraschende Entdeckung, dass scheinbar rein intellektuell Höchstbegabte, die man ja oft für weltfremde und sozial ungeschickte Nerds hält, auch große Begabungen bzw. großen Einsatz auf sozial-emotionalem Gebiet zeigen. Dazu gehören etwa Albert Einstein und Marie Curie, oder aktuell Persönlichkeiten wie Ronan Farrow, der mehrere Klassen übersprungen hat, das College mit 15 Jahren als jüngster Absolvent überhaupt abschloss und sich zugleich sozial und politisch seit seiner Jugend intensiv engagiert, etwa als UNICEF-Sprecher für Kinder und Frauen in der Darfur-Krise oder als Initiator der MeeToo Bewegung. Auch Jonathan Safran Foer, der als literarisches Wunderkind galt, setzt sich seit vielen Jahren in seinen Publikationen für Tierrechte und Klimaschutz ein. Umgekehrt ergaben meine Nachforschungen, dass viele Genies, die auf sozial-emotionalem Gebiet enorme Fähigkeiten zeigen, zugleich intellektuell höchstbegabt sind, z. B. Martin Luther King oder Florence Nightingale. Auch viele künstlerisch Höchstbegabte, wie etwa Vincent van Gogh oder die Schriftstellerin Marguerite Duras, waren, entgegen weit verbreiteter Annahmen, vermutlich auch intellektuell höchstbegabt.

Vernunft und Mitgefühl scheinen also näher beieinander zu liegen, als man denkt. Das Bindeglied dazwischen ist bei Hochbegabten offenbar ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.

 
 
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Bild / Picture „Jonathan, the little Kara boy with baby goat in Kenya“ thanks to © Courtesy of Giovanna Aryafara (Bali / Indonesia)

 
 

Andrea Brackmann: „Hoch – und Höchstbegabte besitzen oft einen starken Gerechtigkeitssinn. […] Der Naturforscher Alexander von Humboldt und sein Bruder, der Sprachforscher Wilhelm von Humboldt, waren bereits um das Jahr 1800 überzeugt von der Gleichheit aller Ethnien, sie setzten sich für Völkerverständigung und den Erwerb möglichst vieler Fremdsprachen ein. Die Philosophin Hannah Arendt oder Albert Einstein engagierten sich intensiv für Flüchtlinge aus aller Welt. Martin Luther King, der wie schon erwähnt, intellektuell höchstbegabt war, erreichte Bahnbrechendes im Kampf für die Bürgerrechte der Schwarzen.“

 
 

Çiğdem Gül: Welche aktuellen Studien gibt es zum Thema Hochbegabung und Höchstbegabung?

Welche Studien gibt es zu den hochbegabten Analphabeten oder taubstummen Hochbegabten?

Wie bewerten Sie diese Forschungsergebnisse?

 

Andrea Brackmann: Rinn & Bishop (2015) führten eine große Meta-Analyse sämtlicher Literatur zu hochbegabten Erwachsenen durch. Sie bemängeln zwar, dass viele Veröffentlichungen nicht auf streng wissenschaftlich standardisierten Studien beruhen, aber insgesamt zeichne sich die Tendenz ab, dass die Mehrzahl der Hochbegabten mit ihrem Leben und ihrem Beruf zufrieden, seelisch stabil und sozial gut integriert sei. Voraussetzung sei allerdings, dass die Hochbegabung frühzeitig erkannt und angemessen gefördert werde. Darüber scheinen sich viele Autoren einig zu sein. Eine Differenzierung zwischen Hochbegabung und Höchstbegabung findet jedoch hier, wie fast in der gesamten Literatur, nicht statt.

Eine Studie von Gross (2003) speziell zu Höchstbegabten (ab IQ 145) zeigt, dass diese sich umso stabiler entwickeln, je stärker ihre schulische Laufbahn beschleunigt wurde. Das bestätigen auch meine Nachforschungen zu bekannten Genies: Marie Curie, Johann Wolfgang von Goethe oder Martin Luther King haben ihr Abitur bereits mit 16 Jahren abgelegt und deutlich früher die Universität besucht als der Durchschnitt. Andere, wie z. B. Thomas Edison, Alexander von Humboldt oder Ada Lovelace, erhielten hoch qualifizierten Unterricht zu Hause, der ihrem unstillbaren Wissensdurst und hohen Lerntempo – unabhängig von Altersnormen – angepasst wurde. Höchstbegabte, die stattdessen eine normale Schullaufbahn absolvieren, haben laut Gross häufiger seelische, soziale und berufliche Schwierigkeiten.

Andere aktuelle Studien, z. B. Karpinski (2018), zeigen bei Hochbegabten generell eine gewisse Anfälligkeit für seelische Probleme oder für Autoimmunerkrankungen wie etwa Allergien. Hier wird wiederum nicht nach geförderten und nicht geförderten Hochbegabten unterschieden und auch nicht zwischen Hoch- und Höchstbegabung. Zudem ist zu beachten, dass es unter Hochbegabten besonders häufig zu Fehldiagnosen kommt. Es braucht also immer eine differenzierte Betrachtung.

Diese insgesamt widersprüchlichen Befunde versuche ich in meinem neuen Buch „Extrem begabt: Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies“ näher zu beleuchten.

Hinsichtlich der Studien zu Hochbegabung bei Analphabeten, Gehörlosen oder auch Menschen mit starken Sehbeeinträchtigungen bin ich leider nicht auf dem neuesten Stand, aber soweit ich weiß, gibt es hier noch gewaltigen Forschungs- und Förderbedarf, dies finde ich dringend notwendig. Gehörlose wurden noch bis vor kurzer Zeit pauschal als geistig behindert eingestuft, das halte ich für eine dramatische Fehleinschätzung. Es gibt bekannte Beispiele, wie etwa die taubstumme und blinde Schriftstellerin Helen Keller, oder hoch intelligente Gehörlose aus meinem Umfeld, die ein Universitätsstudium absolvieren. Offenbar müssen wir uns immer noch an den Gedanken gewöhnen, dass Menschen mit Behinderungen nicht zwangsläufig weniger intelligent sind.

 

Çiğdem Gül: Hochbegabung im Kleid der Begeisterungsfähigkeit und Vielseitigkeit tragen die generalistisch-orientieren Multitalente. Warum setzen sich die Gesellschaft und die Öffentlichkeit fast nur mit geförderten Singularbegabten auseinander? Warum werden Multitalente kaum anerkannt und kaum diskutiert?

 

Andrea Brackmann: Viele Hoch- und Höchstbegabte besitzen laut Goertzel & Hansen (2004) in der Tat mehrere Talente. Sie können bestimmte Regeln und Erkenntnisse von einem Gebiet auf ein anderes übertragen, etwa von Mathematik auf Philosophie und Musik; oder von Schauspiel und Literatur auf Psychologie, und umgekehrt. In meinem ersten Buch „Jenseits der Norm“ habe ich dem „Multitalent“ eine eigene Rubrik gewidmet. Auch unter bekannten Genies findet man häufig noch eine zweite große Begabung: Galileo Galilei und Albert Einstein waren hervorragende Musiker, Winston Churchill erhielt einen Nobelpreis in Literatur, die Sängerin und Multimediakünstlerin Björk erhielt für ihre Leistung als Schauspielerin bedeutende Auszeichnungen, Florence Nightingale verfügte neben ihrer sozial-emotionalen Hochbegabung über außergewöhnliche Fähigkeiten in Mathematik, Medizin und Architektur. Jacobsen (1999), Fleiß (2003) oder Schwiebert (2015) sprechen von sogenannten „Generalisten“ und vielseitigen Talenten unter Hochbegabten. Ich denke also schon, dass diese zumindest in der Hochbegabungslandschaft durchaus wahrgenommen werden. In den Medien hingegen eignen sich Hochbegabte mit einzelnen herausragenden Fähigkeiten, wie z. B. Schach- oder Musikgenies, vermutlich eher als aufsehenerregende „Stars“, die besser vermarktet werden können.

 
 
 
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Bild / Picture thanks to © Courtesy of Giovanna Aryafara (Bali / Indonesia)

Buddhist monk in Cambodia. Angkor Wat is a temple complex in Cambodia and one of the largest religious monuments in the world.

 
 

Çiğdem Gül: Für viele Hochbegabte gibt es nach einer Zeit ein großes Aufatmen, wenn sie sich als solche erkannt haben, sich nicht mehr verleugnen müssen und ihre Hochbegabung ausleben können, auch wenn einige Konflikthemen in der Schul- Hochschul- und Arbeitswelt noch nicht vom Tisch sind.

Bei hochbegabten Migrantenkindern mit muslimischem Hintergrund, wie z. B. bei uns Türkinnen und Türken gibt es nach dem öffentlichen Ausleben unserer Hochbegabung kein Aufatmen, sondern Nach- Luft- Schnappen, weil wir von der Mehrheit der deutschen Seite trotz gelungener Integration (nicht Assimilation!) auch nach über 60 (!) Jahren Migrationsprozess nicht wertgeschätzt, sondern defizitär betrachtet werden.

Was sind Ihre Lösungsansätze für dieses Dilemma?

 

Andrea Brackmann: Das ist in der Tat ein großes Problem und berührt das weite Feld der offenen oder latenten Diskriminierung von Minderheiten und Migranten. Dieses Problem findet sich nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, den USA und Großbritannien.

Es fängt schon damit an, dass die gängigen Intelligenztests fast alle sprach- und bildungsabhängig sind. Hochbegabte Kinder von eingewanderten Familien sind damit im Nachteil und werden oftmals gar nicht als besonders begabt erkannt, nur weil sie die jeweilige Sprache oder kulturelle Regeln noch nicht so gut beherrschen. Die Teilnahme an Studien und Förderprogrammen für Hochbegabte erfolgt aufgrund von Lehrerurteilen; man hat aber festgestellt, dass Lehrer und Lehrerinnen dazu neigen, die Intelligenz von SchülerInnen aus Einwanderungsfamilien grundsätzlich zu unterschätzen. Sie sind also in Studien und Fördermaßnahmen unterrepräsentiert und werden auch in psychologischen Praxen seltener zu Testungen auf Hochbegabung vorgestellt. Das Klischee von Migration und Bildungsferne ist, wie Sie ganz richtig sagen, bedauerlicherweise noch immer stark verfestigt. Eingewanderte Menschen haben, selbst wenn sie bereits über Generationen hier sind, schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen und müssen sich im Berufsleben viel mehr beweisen und behaupten. Entsprechende Vorurteile haben durch das veränderte politische Klima leider wieder zugenommen, in Deutschland durch Autoren wie Thilo Sarrazin, der Muslime genetisch bedingt als weniger intelligent betrachtet, oder durch die AfD und etablierte Parteien, die Flüchtlinge weniger als Bereicherung ansehen, sondern sie als Belastung und „Mutter aller Probleme“ herabwürdigen. In den USA erlangen Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten durch Donald Trump wieder Aufwind, was auch international nicht ohne Wirkung bleibt. Das macht mich oft fassungslos.

Einfache Lösungsansätze gibt es für diesen Themenkomplex leider nicht. Aber es gibt verschiedene Ansätze. Die Gründung Ihres Intercultural Network For The Highly Gifted halte ich zum Beispiel für einen wichtigen Schritt. Und es gibt erfreulicherweise Talentscouts wie Kerstin Franz, die in sogenannten bildungsfernen, sozial und wirtschaftlich schwachen eingewanderten Familien gezielt nach besonders begabten Kindern suchen und diese fördern. PsychologInnen müssten in Studium und Ausbildung mehr für diese Problematik sensibilisiert werden. Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) hat 2015 zum Thema Migration und Hochbegabung ein eigenes Heft herausgebracht. Auch Hochbegabtenvereinigungen wie Mensa können in der öffentlichen Wahrnehmung einiges bewegen. Es ist ein langer Weg mit vielen Schritten – bis jetzt sind es noch deutlich zu wenige.

 
 

Andrea Brackmann: „In der Tat sind viele Höchstbegabte besonders energiegeladene Menschen, sie stehen durch ihr hoch aktives Gehirn und Nervensystem gleichsam unter Strom und verfügen oft über einen fast unerschöpflichen Antrieb und hohe Intensität.“

 
 

Çiğdem Gül: Was sind Ihre Gedanken und Meinung zum kulturellen und interkulturellen Aspekt des Themas „Hochbegabung, Vielbegabung und Höchstbegabung“?

 

Andrea Brackmann: Vieles ergibt sich wohl schon aus dem bisher Gesagten. Hoch – und Höchstbegabte besitzen oft einen starken Gerechtigkeitssinn. Sie erkennen Ungerechtigkeiten meist aufgrund ganz sachlicher und logischer Betrachtung. Sie fragen sich: „Warum sollten Menschen etwa des afrikanischen oder südamerikanischen Kontinentes weniger klug sein als andere?“ Viele bekannte Genies haben sich theoretisch und auch sehr konkret für die Gleichberechtigung von Nationalitäten, Völkern und Kulturen eingesetzt. Der Naturforscher Alexander von Humboldt und sein Bruder, der Sprachforscher Wilhelm von Humboldt, waren bereits um das Jahr 1800 überzeugt von der Gleichheit aller Ethnien, sie setzten sich für Völkerverständigung und den Erwerb möglichst vieler Fremdsprachen ein. Die Philosophin Hannah Arendt oder Albert Einstein engagierten sich intensiv für Flüchtlinge aus aller Welt. Martin Luther King, der wie schon erwähnt, intellektuell höchstbegabt war, erreichte Bahnbrechendes im Kampf für die Bürgerrechte der Schwarzen.

Es wäre wünschenswert, dass Hochbegabte ihre Intelligenz und ihren Idealismus noch stärker nutzen und ihre Kräfte auch weltweit bündeln, um sich für die Rechte aller Kulturen einzusetzen und dadurch Vorurteile weiter abzubauen.

Diese Notwendigkeit zeigt sich auch in der aktuellen Corona-Krise: Der israelische Historiker Yuval Noah Harari weist darauf hin, dass Grenzschließungen und nationale Alleingänge im Moment nicht zielführend seien. Viel wichtiger sei es, in intensiver internationaler Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen „die Grenze zwischen der Menschheit und dem Virus zu patrouillieren.“

 

Çiğdem Gül: Höchstbegabte verfügen nicht nur über höchste Begabung bzw. Begabungen, sondern strahlen auch eine bestimmte Energie ab. Ich möchte Ihnen von der Frau aus der Zukunft erzählen, die ich vor ca. drei Jahren kennenlernen durfte. Frau Dr. Katja Wrase ist eine höchstbegabte Sozialwissenschaftlerin, die in Philosophie promoviert hat. Ihre Promotion mit dem Thema „Erdsystemanalyse. Ein vierdimensionaler fraktaler Systemvergleich“ ist einmalig in Deutschland bei den Physikern und Mathematikern veröffentlicht worden. Obwohl ich mittlerweile mit einem Dutzend von Höchstbegabten in Kontakt stehe, einige von ihnen seit vielen Jahren kenne, und mit Drei von ihnen sogar befreundet bin, unterscheidet sich diese Höchstbegabte für mich von den anderen Höchstbegabten dahingehend, dass ich ihre Gedankengänge, Ansichten, Analysen aus der Zukunft kommend empfinde. Sie ist ihrer Zeit zu sehr weit voraus. Das habe ich in der Hochbegabtenlandschaft noch nie erlebt. Für mich kommt sie von einem anderen, aber faszinierenden Planeten.

Frau Brackmann, wie ist das Phänomen dieser Art von Höchstbegabten in Ihrer Praxis zu erklären?

 

Andrea Brackmann: Höchstbegabung ist eine Form starker geistiger Entwicklungsbeschleunigung und übrigens gar nicht so selten: Immerhin ein bis zwei Personen von Tausend haben einen IQ ab 145. Viele können bereits vor Vollendung des ersten Lebensjahres sprechen oder im Alter von zwei bis drei Jahren lesen und rechnen. Diese Beschleunigung setzt sich im Laufe des Lebens fort und potenziert sich durch intensive geistige Arbeit, sodass Höchstbegabte und Genies ihrer Zeit typischerweise voraus sind. Gepaart mit einer ausgeprägten Vorstellungskraft können sie bestimmte Entwicklungen vorausdenken. Genies wie Galileo Galilei oder Charles Darwin sind ja berühmt dafür, dass sie bahnbrechende neue Entdeckungen machten, die dann erst später als richtig erkannt wurden. Und in der Tat sind viele Höchstbegabte besonders energiegeladene Menschen, sie stehen durch ihr hoch aktives Gehirn und Nervensystem gleichsam unter Strom und verfügen oft über einen fast unerschöpflichen Antrieb und hohe Intensität.

 
 
 
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Bild / Picture thanks to © 2020 Courtesy of Andrea Brackmann (Frankfurt am Main / Germany)

 
 

Çiğdem Gül: Frau Brackmann, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Buch „Extrem begabt: Die Persönlichkeitsstruktur von Höchstbegabten und Genies“, das seit heute – 25. April 2020 – im Handel erhältlich ist. Ich habe bereits mit viel Interesse und großer Freude die Leseprobe gelesen. Würden Sie uns etwas über Ihr neues Buch erzählen?

 

Andrea Brackmann: Vielen Dank, Frau Gül!

Einiges habe ich über das neue Buch schon erzählt. Bislang hatte man hauptsächlich nur die Kategorien: Hochbegabt – ja oder nein. Es gibt aber zum einen, genau wie Sie sagen, unterschiedliche Formen von Hochbegabung, also künstlerische, intellektuelle oder naturwissenschaftliche, und zum anderen verschiedene Stufen, also moderate, außerordentliche oder extreme Hochbegabung. Ich untersuche, ob mit steigendem IQ auch andere für Hochbegabte typische Merkmale, wie z. B. erhöhte Sensibilität, starker Antrieb oder Perfektionismus zunehmen, oder ob es asynchrone Entwicklungen gibt, d. h. ob manche Aspekte mit steigendem IQ wieder abnehmen. Weitere Fragen, denen ich nachgehe, sind z. B. wie extrem Begabte lernen, mit der ungeheuren Fülle an Gedanken und Wahrnehmungen zu haushalten, und welche Auswirkungen Hoch- und Höchstbegabung im Alter hat.

Schon seit vielen Jahren hatte ich mich daher mit Biografien berühmter Höchstbegabter und Genies wie Albert Einstein, Marie Curie oder Vincent van Gogh befasst, um zu sehen, welche Gemeinsamkeiten es gibt und was die elementaren Grundmechanismen von Hochbegabung sind.

 

Çiğdem Gül: Liebe Frau Brackmann, ich danke Ihnen sehr für unser Gespräch, das Sie trotz Ihrer belastenden gesundheitlichen Situation und der zusätzlich gegenwärtigen Corona-Pandemie aus der Ferne mit mir geführt haben.

Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass es Ihnen gesundheitlich wieder gut geht und, dass Ihre beiden größten Träume in Erfüllung gehen. Ich bin mir sicher, dass Sie irgendwann wieder im Meer schwimmen werden, so, wie Sie damals im Rahmen Ihrer psychotherapeutischen Arbeit wie ein Fisch im Wasser geschwommen waren. Und wenn unserem Team des Intercultural Network For the Highly Gifted gemeinsam mit unseren weltweiten Mitgliedern und KooperationspartnerInnen gelingt, langfristig eine interkulturelle und ethische Allianz der Vernünftigen zu verwurzeln, so freuen wir uns alle jetzt schon.