Teil 1: Wenn dem ICH das DU fehlt


2017-07-03 19_11_35-Oscar Picazo - High Class Fashion Photographer
 

Wenn

dem ICH

das DU

fehlt.

 
 
 
 

Es ist an der Zeit,

über die Partnerwahl, Liebe und Beziehung anders zu denken.

 
 
 
 
 

cigdem guel_

Von Çiğdem Gül

27. Juli 2017

 
 
 
 
 
 
 

Bild/ Picture thanks to © Oscar Picazo

 
 
 

Ein ICH ohne DU

 

Wir sind auf dieser Welt, um die zu werden, die wir sind. Und dafür „reichen weder Hochbegabung noch Vorstellungskraft, und auch nicht beides zusammen für die Genialität aus. Liebe, Liebe, Liebe. Sie ist das Genie selbst.“[1]

Wir erleben das Leben im Rahmen unserer persönlichen Entwicklung auch an unserer veränderten Wahrnehmung. Lern- und Erkenntnisprozesse entstehen oft durch Veränderung. Wenn wir uns weiter als die Masse entwickelt haben, dann haben wir ein anderes Wertesystem. Kann ich mit der Konsequenz dessen, was passiert, mich so intensiv und gut auseinandersetzen?

Unser Leben ist nicht statisch, das heißt. wir ziehen Bilanz von (Lebens-)Station zu (Lebens-)Station; gelebt wird aber zwischen den (Lebens-)Stationen. Und darin besteht das Leben nicht aus den Momenten, in denen wir nur atmen, sondern auch aus denen, die uns den Atem rauben. Jeder von uns hat das Bedürfnis, sich zu verlieben, zu lieben und geliebt zu werden. Wir sehnen uns danach, von einem besonderen DU `entdeckt´ zu werden. Und suchen den `ersten Moment´ mit jemandem, der uns voll und ganz bejaht, annimmt und zelebriert. Den richtigen Partner finden, eine erfüllte und glückliche Beziehung zu führen, ist der große Wunsch. Man könnte meinen, das überall deshalb die wahre Liebe lauert, wo doch Millionen Singles – Normalos, Hochbegabte, Hochsensible etc. – oft gezielt auf die Partnersuche gehen, um die Liebe fürs Leben zu geben und sie selbst zu finden. Auch das sensible Gänseblümchen muss daran glauben. „Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich…“ Es fällt auf, dass z. B. die Frau diesmal kein einziges Blütenblatt ausreißt, sondern mit viel Zärtlichkeit mit der kleinen Blüte umgeht. Sie verstummt plötzlich dabei, als würde sie die Fortsetzung fürchten.
„Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich…“ Und dann?! Was ist, wenn er sie doch nicht liebt?!

Das Geschäft mit der Liebe boomt im Internet. Zahlreiche Dating- Portale wollen bei der Partnersuche helfen und versprechen die große Liebe. Es ist auch die Rede von Partnerschaftsbörse nur für Hochbegabte. Ihr Herzstück sind die psychologischen Matchingverfahren, anhand derer Partnersuchende ihr perfektes Gegenstück finden sollen. Um den Richtigen zu finden, nehmen wir jeden Tag in Kauf, ein Flut an Informationen aufzunehmen, Selbstdarstellungen zu präsentieren und Wahlmöglichkeiten in Sekundentakt am Bildschirm zu überprüfen. In keiner Zeitepoche war das Kennenlernen eines potentiellen Partners so leicht, wie wir es heute erleben. Partnersuche ist jedoch eine andere Liga. Sie ist nicht nur bei Hochbegabten und Hochsensiblen kompliziert. „Der Reichtum des Lebens liegt also in unseren Beziehungen, auch wenn wir gerade dort oft sehr schmerzlich unsere Armut zu spüren bekommen.“[2]

Häufig bleibt unsere Sehnsucht nach einer Partnerschaft unerfüllt. Woran liegt das?

In Anatolien oder sonst wo auf der Welt war es früher „einfacher“. Im Dorf band das verliebte junge Mädchen eine unifarbene Schleife am Ast des Wunschbaumes. Sie wünschte sich insgeheim, ihren Schwarm zu heiraten. Wunschbäume sind dafür, da dass man sich alles Mögliche wünscht. Alles geht in Erfüllung, aber nicht, den Traummann zu heiraten. Jeder konservativerFamilienrat beschloss, welches Mädchen der Sohn der Familie heiraten sollte. Und er musste sie heiraten. Basta. Manche hatten sogar Glück und verliebten nach der Zwangsheirat ineinander. Andere wiederum brannten vorher schon durch. Blöd nur, wenn die junge Frau tanzend fälschlicherweise mit dem Bruder des Traummanns durchbrennt, weil er sie angeblich auf den Bergen Anatoliens zu ihm bringen möchte, aber in Wahrheit die junge Frau für sich selbst entführt hat. So einen Fall kenne ich wirklich.

Heute kann ein intellektueller und kreativer Mann nicht mal eine Frau „entführen“, weil er nicht weiß, mit welcher Frau er durchbrennen soll. Schließlich gibt es so viele schöne und interessante Frauen. Auch in der virtuellen Welt. Hat er sich für eine Frau interessiert, zieht er weiter mit den Gedanken „Verpasse ich was? Es gibt sicherlich noch bessere und schönere Frauen für mich“. Er schreibt sogar viele Frauen zeitgleich in Internetplattformen an. Er ahnt aber nicht, dass diese Frauen im Hintergrund alle miteinander vernetzt sein könnten und sie sich ein Spielchen mit dem Mann erlauben könnten. Oder ihn kollektiv abweisen. Auch solche Fälle sind mir bekannt. Der Mann ist verzweifelt. Also setzt er sich imaginär unter die Balkone der Frauen und spielt die traurigsten Lieder auf Gitarre. Soviel Drama muss sein! Es ist nicht leicht, ein Mann zu sein. Und das gilt umgekehrt auch für Frauen. Schließlich sind wir wirklich im 21. Jahrhundert und in der Not, die wahre Liebe zu finden, und wenn wir sie gefunden haben, bei ihr zu bleiben.

Wir meinen, dass wir im Gegensatz zu früher, also zu der Zeit von vor 100 Jahren, heute frei wären in der Partnersuche, Partnerwahl, Liebe, Beziehungen und Eheschließung. Fakt ist aber, dass viele Menschen im Zeitalter des Internets diese Themen genauso unfrei, nüchtern, berechnend, ökonomisch und oberflächlich angehen wie vor hundert Jahren. Die wahre Liebe bleibt in vielen Fällen auf der Strecke. Man wird sie nicht finden, wenn man nicht bereit ist innezuhalten, die eigenen Beziehungsmuster und Fallstricke zu erkennen. Die Frage ist zudem, ob man die wahre Liebe oder Ware Liebe finden möchte. Für die Erstere sollte man auch bereit sein, ggf. zu kämpfen, statt bei dem kleinen Konflikt davonzulaufen, weil ein Klick entfernt der nächster potentielle Kandidat auf einen wartet.

Es gibt vielschichtige Gründe, weshalb die reale und virtuelle Partnersuche in die Leere läuft oder eine Beziehung wieder mit dem vermeintlichen Falschen geführt wird. Ich möchte hierzu einige Ursachen beschreiben.

In der schnelllebigen Zeit haben wir alle Uhren, aber niemand hat wirklich Zeit. „Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen.“ Ich kenne viele Frauen und Männer, die über Dating- Portale / Singlebörsen, Speed Dating etc. wie am Fließband einen Mann / eine Frau nach der/dem anderen kennenlernen, um schnell zu sortieren, keine Zeit zu verlieren und abzuhaken, um zur nächsten Begegnung überzugehen. Vor einigen Jahren sagte mir in Istanbul eine in Deutschland lebende Araberin, dass man als Frau beim Online Dating den Mann schnell und nüchtern abhaken sollte, der nicht in Frage kommt, damit man keine Zeit verliert und sofort zum Nächsten übergehen kann. So habe sie damals ihre Partnersuche sehr nüchtern durchgezogen und später ihren deutschstämmigen Mann gefunden. Verliebt oder von Liebe umgeben sah sie mir nicht aus.

Deutschland wäre nicht yavrum Deutschland, wenn es keine türkischsprachigen virtuellen Single-Plattformen geben würde. Da wir Türkinnen und Türken unsere Gefühle sehr gerne ganz oben oder ganz unten leben, sind wir auf solchen Plattformen viel lebendiger, fröhlicher und farbenfroher in der Stimmung. Das schlägt sich erst dann um, wenn ein ungeduldiger Single-Pascha von der Frau, die ihm sehr gefällt, auf seine kurze Macho-Nachricht innerhalb von zwei Sekunden keine Antwort erhält. Dann wird er sauer, so dass er die Single- Frau über weitere Nachrichten bis zu ihren Vorfahren fluchen kann. Dabei überspringt er keine Zeitepoche. Da zum Glück nicht alle türkischen Männer verwöhnte Muttersöhnchen-Paschas sind, ist das Flirten mit den anderen sehr spannend und schön.

Ich habe mir von meiner sicheren Quelle sagen lassen, dass in Italien die Menschen bei der Partnersuche auf virtuelle Dating Portale insgesamt weniger zurückgreifen würden als Menschen in Deutschland.

Partnersuchende in Deutschland lernen zu viele Kandidaten viel zu schnell kennen und richten ihre Aufmerksamkeit – teilweise verkrampft mit Magenschmerzen – auf die neue Liebe. Dadurch vernachlässigen sie viele Dinge, die ihnen vorher wichtig waren. Freunde, Familie, Hobby und eigene Projekte.

Die Liebe ist `blind`? Nein, Dank der auch negativen (Weiter-)Entwicklung der Gesellschaft wird der Liebe ihre Schönheit, Glanz und rosarote Brille genommen. Die Liebe ist zu einer Instanz geworden, auf die man gerne verweist, wenn es vielmehr um merkantile Interessen wie Sicherheit, Berechnung, Geld, Status, Macht und um die „moderne Prostitution“ geht. Viele auch mir bekannte Frauen ziehen von einem Mann zum Nächsten weiter, weil sie sich die Steigerung von Sicherheit, Status, Image, Geld und Macht erhoffen. Die unzähligen Hüllen wechseln sich, die Inhalte sind jedoch leer wie sie selbst. „Gefühle passen einfach nicht in unsere Gesellschaft. Sie lassen sich jedoch nicht berechnen, einfrieren und verkaufen.“[3] Viele Männer hingegen suchen das Unverbindliche. Ich wünschte, dass ich beim Beobachten der Außenwelt nicht so sehr desillusioniert wäre. Hinzu kommt, dass bei der Suche nach der Liebe des Lebens die gefährliche Versuchung bestehen kann, sich nicht in sein Gegenüber, sondern in die Suche selbst zu verlieben.

Ein Leben ohne festen Partner – für immer mehr Menschen ist das der Normalfall. Viele Alleinstehende sind zufrieden mit ihrem Status und ziehen einen Gewinn aus ihrer Ungebundenheit. Doch nicht immer ist diese Lebensform freiwillig gewählt. Manche sind „gebrannte oder verkohlte Kinder“ und scheuen neue Beziehungen, andere finden nicht den Richtigen oder haben Angst vor zu enger Bindung. Aber auch der Ich-Kult der Gesellschaft und der Glaube an eine unbegrenzte Auswahl können Partnersuche und Beziehungsleben erschweren.

Und dann gibt es noch die sogenannten Mingles, aktive und passive Beziehungsverweigerer, die zwischen One-Night-Stand und Beziehung pilgern. Bei diesem neuen Trend schaffen Mingles einfach nicht, sich zu entscheiden und für diese Entscheidung einzustehen. Schließlich ist der Ist- Zustand für sie bequem, denn sie brauchen keine Verantwortung zu tragen. Ob auf Dauer beide Seiten glücklich sind, ist fraglich.

Die Welt ist, wie sie ist. Die Gesellschaft ist, wie sie ist. Mir erscheint die Mehrheitsgesellschaft jedoch widersprüchlich. Es ist ein merkwürdiges Paradoxon, dass sie in der Theorie soziale Verträglichkeit, Frieden, gesunde Beziehungen aller Art und Ehen mit Kindern erwartet, aber in der Praxis Menschen privat und beruflich permanent zur Oberflächlichkeit, Perfektion, Ellenbogen-Mentalität, Kampfmodus zwingt. Sie ist beziehungs- und kinderfeindlich. Und nach Aussage des Autors Michael Nast bescheinigt sie sich selbst die Beziehungsunfähigkeit, statt die vorhandene Liebesfähigkeit zu kultivieren. Michael Nast, der mit seinen Kolumnen über die Liebe und das Leben im Jahr 2016 Millionen Leser erreichte und unterhielt, hatte darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel „Generation beziehungsunfähig“. Die Gesellschaft ist sehr wohl beziehungsfähig, aber durch das ständige Suchen von „Vielleicht findet sich wer Besseres“, hat Einzelne ihre Natürlichkeit verloren und sich in unnötige Verstrickungen begeben. Der niederländischer Philosoph Jan Drost sagte bei einem Interview für eine Zeitschrift, dass wir in einer Zeit leben, in der das romantische Missverständnis vorherrscht, Liebe müsse sich immer ganz und gar gut anfühlen. Dadurch fragt man sich viel zu schnell, ob es nicht irgendwo etwas Besseres gebe, anstatt zu überlegen, was man an der Beziehung vielleicht korrigieren und/oder verbessern könnte.

Wie soll eine Gesellschaft die Hochbegabten verstehen, die ihre Widersprüchlichkeit als Harmonie und Einklang empfinden, wenn dieselbe Gesellschaft ihre eigene Paradoxie noch nicht reflektiert und akzeptiert hat?

Ich sollte mit der Verantwortung umgehen, dass ich diese Paradoxie erkenne und Veränderung für mich schaffe. Jeder von uns ist ein Teil dieser Gesellschaft. Und es ist die Paradoxie in uns, auch die der Normalos, die sich kollektiv in der Gesellschaft wiederspiegelt. Individuelle Heilung mündet irgendwann in der kollektiven Heilung. Aber das scheint nicht das Ziel der Gesellschaft zu sein. Es ist nicht die Aufgabe, die Welt oder die Gesellschaft zu verändern. Es ist die Aufgabe, die Einstellung zur Welt oder zur Gesellschaft zu verändern. Die Art und Weise, wie ich die Welt begegne, beeinflusst meine Veränderung.[4]

Wir haben verlernt, die Augenblicke als Vollständigkeit von Liebe, Erholung und Dankbarkeit zu betrachten. Es ist an der Zeit, über die Partnerwahl, Liebe und Beziehung anders zu denken.

 
 

© Çiğdem Gül 27.07.2017
Diplom-Ökonomin, Interkultureller Coach für Hochbegabte & Hochsensible, freie Journalistin

http://cigdemguel.de/

 
 
 

In Anlehnung an „Liebe: Die schönste Begabung der Welt“ und „Lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand“ möchte ich die Fortsetzungen zum „Teil 1: Wenn dem ICH das DU fehlt“ ankündigen.

Teil 2: Das verletzte Zuhause-Ich

Teil 3: Von dir aus gesehen bin ich du

Teil 4: Partnersuche und Partnerwahl bei Hochbegabten

Teil 5: Verliebtsein, Sinnlichkeit der Liebe, Blütezeit und Partnerschaft bei hochsensiblen Hochbegabten

 
 
 
 
Oscar Picazo

Pictures thanks to © Oscar Picazo (Las Vegas/USA)

 
 

Fußnoten

 

[1] Wolfgang Amadeus Mozart Ich fand das von mir übersetztes Zitat „Es reichen weder Hochbegabung noch Vorstellungskraft, und auch nicht beides zusammen für die Genialität aus. Liebe, Liebe, Liebe. Sie ist das Genie selbst“, von Wolfgang Amadeus Mozart auf einer Internetseite in türkischer Sprache.

[2] Ernst Ferstl (*1955). österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker

[3] Ernst Ferstl (*1955). österreichischer Lehrer, Dichter und Aphoristiker

[4] Frank Kinslov Buch: „Das stille Paradox – Nichts tun, alles erreichen“

 
 
 
 

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