Jana Pikora über Synästhesie: Wahrnehmung ist eine taumelnde Gazelle


Welche Farbe hat eine Person?
Welche Farbe hat eine Zahl?
Was für einen Geschmack gewinnt die Musik?

Solche Fragen mögen im ersten Moment ein wenig seltsam erscheinen, doch für viele Menschen sind Fragen solcher Art völlig normal.

Die Synästhesie ist weder Krankheit noch Halluzination bzw. das Ergebnis eines Drogenrausches. Sie ist nicht gleichzusetzen mit Fantasie. Synästhesie ist eine besondere Begabung durch gesunde Sinnesvermischungen. Sie ist eine besondere Wahrnehmung und Gabe, die durch eine spezifische, neuronale Vernetzung im Gehirn entsteht, wodurch mehrere Sinne gleichzeitig aktiviert werden. Im Gehirn der Synästhetikern sind die Areale, die für die verknüpften Sinnesempfindungen zuständig sind, über verstärkte Nervenbahnen miteinander verbunden. Çiğdem Gül, 01.03.2016

„Synästhesie passiert einfach – das Wort wird vom Gehirn mit Farben, Mustern und, im Fall der Ordinal Linguistic Personification, auch mit menschlichen Eigenschaften belegt. Das, was ich beschreibe, ist das, was ich sehe.“ Jana Pikora

 
 

Jana Pikora ist erfolgreiche Bloggerin zum Thema der Synästhesie.
Gerne möchte ich euch Jana´s folgenden Text vorstellen:

 
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Wahrnehmung ist eine taumelnde Gazelle – über den Umgang mit synästhetisch veranlagten Kindern

 

Von Jana Pikora

 

„Ich frage mich dieser Tage manchmal, was gewesen wäre, wenn in meiner Kindheit (während der 80er) Synästhesie schon ein allseits bekanntes Phänomen gewesen wäre. Hätte ich all die Wortwesen wirklich kennengelernt? In Ruhe stundenlang dem Geräusch des Haarebürstens gelauscht und die Striche vor meinen Augen verfolgt? Erlebte Geschichten von Wochentagen umarmen und für immer festhalten lassen? Hätte ich einfach so, ganz vertieft, die Wörter und Zahlen anschauen können, die sich vor mir aufbauten, einfärbten, Augen und Frisuren wachsen ließen und dann für immer so blieben?

Auf seltene Aussagen meinerseits zu Farben in Wörtern wurde glücklicherweise nicht anders reagiert, als auf andere Alltagsbeobachtungen. Sie gingen im Meer der vielen Äußerungen unter und wurden weder kleingemacht noch aufgebauscht. Meist wurde freundlich gelächelt und gesagt: “Ach, der Name ist blau? Du hast ja viel Phantasie.” Dass Synästhesie nicht das Gleiche ist wie Phantasie (schon farblich nicht, Synästhesie ist gelb mit Punkten und Phantasie schillerndmondfarben und schwarzlila), machte dabei nichts. Wichtig war: ich wurde nicht verwirrt. Ich merkte, dass es nichts Schlimmes ist, aber auch nichts Großes.

Da andere, kindliche Verwandte von mir auch synästhetische Anlagen hatten, gab es ausreichend geeignete Diskussionspartner auf Augenhöhe; manchmal endete es im Streit, doch es war wie mit allen Wahrnehmungssorten: “Was, du magst Erdbeereis? Was, die 8 ist rot? Du spinnst ja, Erdbeereis ist eklig und die 8 ist blau!”. Große Empörung allerseits und irgendwann die Erkenntnis: offenbar sind wir da unterschiedlich. Ist nicht schlimm. Ist eben so. (Hätte ich keinen Gesprächspartner für Synästhesie gehabt, wäre es auch nicht tragisch gewesen. Ich kann mich an höchstens vier Dialoge dieser Art erinnern, die nicht über einen kurzen Schlagabtausch hinausgingen. Viel wichtiger war, dass es Menschen gab, die sich für einen interessierten. Mit oder ohne Farben).

Es gibt inzwischen Studien, in denen es um die Frage geht, ob Hochbegabung und Synästhesie zusammenhängen, ob Autismus und Synästhesie miteinander einhergehen, ob bunte Magnetbuchstaben Kinder synästhetisch prägen und überhaupt, wie das zu fördern sei, weil man doch so bestimmt besser lernen könne. Oder schlechter und dann müsse man Benachteiligungen verhindern! Das mag alles sein, Forschung hilft, Forschung ist toll, Forschung muss sein. Doch was für Schlüsse werden wohl daraus gezogen für den Umgang mit Kindern?

Ich hoffe, dass diese Entwicklung nicht dazu führt, dass Synästhesie überbewertet wird und dadurch auf eine Bühne in Kindheiten kommt, auf denen sie noch nicht stehen sollte. Ich hoffe, dass es keine Lehrkräfte gibt, die mit Vorwürfen überschüttet werden, weil die angebotenen Buchstabenfarben nicht individuell genug seien für die 3 Synästhetiker pro Klasse. Umgekehrt hoffe ich, dass Lehrkräfte auf Farbäußerungen ihrer Schüler möglichst gelassen reagieren. Ich hoffe, dass Eltern ihren Kindern Raum lassen, denn Synästhesie braucht einen inneren Raum, der erst einmal einem selbst gehört. Ich hoffe, dass Kinder nicht ausgelacht, aber auch nicht mit Lob dafür überschüttet werden. Denn: wenn Wahrnehmung zu stark bewertet wird, dann gerät sie ins Taumeln.

Die gute Nachricht ist: man versäumt nichts. Es ist eben nicht wie mit einer Fremdsprache, die früh genug gelernt sein will. Synästhesie passiert einfach. Sie tritt auf, sie ist mal stärker, mal schwächer und baut sich zeitgleich wie Sprache, Gedanken, Musikerinnerungen, Zahlenräume und Geräuscherfahrungen auf. Eines Tages ist es soweit und man erfährt, es gibt einen Namen für diese Selbstverständlichkeit! Es gibt noch mehr Menschen, die das haben!

Und wenn man einigermaßen fest im synästhetischen Sattel sitzt, kann man darüber schreiben, sprechen, Fragen beantworten und versuchen, einen Einblick in diesen Raum zu gewähren (wenn man das möchte). Weil man sich nun gut genug in ihm auskennt, weiß wo alles steht und halbwegs fertig eingerichtet ist. Und selbst dann bleibt die synästhetische Wahrnehmung eine zarte, manchmal taumelnde Gazelle. Die man anlocken kann, wenn man Glück hat, für das eine Foto, die eine Beschreibung, den einen Moment.“

Quelle: https://piksyn.wordpress.com/2015/05/25/wahrnehmung-ist-eine-taumelnde-gazelle-uber-den-umgang-mit-synasthetisch-veranlagten-kindern/

 
 

Görsel / Bild / Picture thanks to © Jürgen Werner Apel

 
 
 

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