Dr. Yaşar Aydın & Dr. Barbara Pusch: Forschung über Abwanderung türkeistämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland


36649414_10214024403697773_6557237870585708544_n
 

„Migration of Highly Qualified German Citizens with Turkish Background from Germany to Turkey:
Socio-Political Factors and Individual Viewpoints“


Zwischenergebnis von zwei Forschungsprojekten, HWWI Insights 03/2011
Text: Dr. Yaşar Aydın und Dr. Barbara Pusch 

 
 
 

Warum entscheiden sich immer mehr türkeistämmige[1] Hochqualifizierte für ein Leben und eine Erwerbstätigkeit in Istanbul, obwohl vieles sowohl im Alltag als auch in der Berufswelt das Leben nicht einfach macht?

 

Diskussionen über die Abwanderung von insbesondere türkeistämmigen Hochqualifizierten haben zu einer seltsamen Wahrnehmung vor allem in den Medien, aber zum Teil auch in den Sozialwissenschaften geführt: Wir lesen in Zeitungen, dass türkeistämmige Hochqualifizierte in Deutschland beruflich nicht weiterkommen, tagtäglich Diskriminierung und Benachteiligung erfahren, sich dann zunächst in das innere Exil zurückziehen und schließlich aus Deutschland abwandern. Da es diese »gescheiterten Existenzen« ins Land ihrer Eltern und Großeltern zieht, der türkische Staat und die Istanbuler Stadtverwaltung ihnen das Kommen leicht macht, landen sie in Istanbul. Bei genauerer Beobachtung stellt sich jedoch heraus, dass die Stadtverwaltung und die Behörden entsetzlich schwerfällig sind und von einer gezielten Anwerbung nicht die Rede sein kann. Zeit also für eine Gegendarstellung aus der Sicht der in die Türkei abgewanderten, türkeistämmigen Hochqualifizierten mit deutscher Staatsangehörigkeit.

»Ich wollte was anderes erleben, neues kennenlernen … Mal raus aus Deutschland. So habe ich mich beurlauben lassen«, antwortet Yasemin Kaya auf die Frage, warum sie aus Deutschland abgewandert ist. Sie ist eine von den vielen in Deutschland geborenen bzw. groß gewordenen Migrantinnen und Migranten, die es nach Studium und ersten Berufsjahren nach Istanbul gezogen hat. Yasemin fehlte es weder an beruflichem Erfolg, noch an Kontakten zu Deutschen oder zu anderen Migrantengruppen in Deutschland. Sie befand sich in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis in einer staatlichen Behörde in einer norddeutschen Kleinstadt und ließ sich vor der Abwanderung beurlauben. Für Istanbul hat sie sich entschieden, weil ihre Familie aus Istanbul kommt und ihr das Istanbuler Leben von den vielen Sommerurlauben bekannt war. Für eine Berufstätigkeit und ein Leben in Istanbul hat sich auch Mete Ertegün entschieden, obwohl er sich auch in Deutschland »sehr wohl gefühlt« habe. Doch das Leben in Istanbul finde er auch »sehr spannend … Es bricht hier gerade sehr viel auf«.

Auch auf Mine Aytekin wirkte Istanbul mit seinem kulturellen Angebot, seiner sich zunehmend verbessernden Infrastruktur und dem Nebeneinander von Ost und West anziehend. Istanbul habe sich von einer »oriental city« zu einer »cool city« mit einem Mosaik von vielfältigen Identitäten entwickelt:

»Ich hab hier viele Möglichkeiten, auch abends nach der Arbeit auszugehen. Istanbul besitzt so eine Art von kultureller Mixtur, was ich halt in Deutschland nicht hatte. In Bonn war das Ausgehen sehr deutsch bis auf die Sommermonate, wo’s dann mal Konzerte auf der Museumsmeile von Tarkan oder Sezen Aksu gab, oder internationale Kinotage stattfanden.«

Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wurde auf die Rückkehrabsichten bzw. »starke« Rückkehrbereitschaft türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten in Deutschland hingewiesen und dies als »mangelnde Integration« und »Integrationsbereitschaft« interpretiert. 2009 sorgte die »Sozialstudie über türkische Akademiker und Studierende in Deutschland« (TASD-Studie des futureorg Instituts) mit dem Befund, ein hoher Prozentsatz von türkeistämmigen Hochqualifizierten wolle Deutschland verlassen, für Beunruhigung in der Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft. Mangelnde adäquate berufliche Tätigkeitsfelder und Aufstiegsmöglichkeiten wurden als wichtige Abwanderungsmotive für ambitionierte und karriereorientierte türkeistämmige Hochqualifizierte herausgearbeitet.

Viele der Ergebnisse der TASD-Studie konnten durch unsere aktuellen Untersuchungen nicht bestätigt werden. Denn wie bei den meisten Migrationsentscheidungen waren auch bei der Abwanderung von türkeistämmigen Hochqualifizierten viele Faktoren ausschlaggebend. Neben den beruflichen Selbstverwirklichungs- und Aufstiegshoffungen, lockt heute auch die aufstrebende globale Stadt Istanbul eine Vielzahl von in- und ausländischen Migrantinnen und Migranten an. Die Megastadt am Bosporus, die von dem Forschungsnetzwerk GaWC (Globalization and World Cities) als »alpha minus global city« eingereiht wurde, verfügt bereits über viele ausländische Direktinvestitionen, und Experten sprechen der Metropolstadt auch mittel- und langfristig hohe Wirtschaftsdynamik zu.

Die ausländischen Firmen sind ebenfalls ein wichtiger Anziehungsfaktor für türkeistämmige Hochqualifizierte. Abgesehen von einigen Wenigen, die von ihren deutschen Firmen in ihre Niederlassungen in der Türkei entsandt wurden, war der berufliche Einstieg für die meisten mit einer Fülle von unerwarteten Faktoren verbunden. So berichten viele der Befragten, dass sie Abstriche von ihren Hoffnungen machen mussten. Denn bei den meisten Jobangeboten stimmten entweder das Gehalt, die Arbeitszeiten oder die konkreten Tätigkeitsfelder nicht mit den Erwartungen überein. Die Vorstellung, man werde in Istanbul als »Deutsch-Türkin« bzw. »Deutsch-Türke« mit offenen Armen empfangen, stellte sich für viele als Illusion heraus.

»Ich dachte, man wird mich hier in Istanbul mit offenen Armen aufnehmen und sagen: ›Bitte helfe uns und zeig uns, was Du in Deutschland alles gelernt hast‹. So war’s absolut nicht«, reflektiert Ayse Yazıcı selbstkritisch und selbstironisch.

Vor allem diejenigen, die nicht in den Niederlassungen ausländischer Firmen eine Beschäftigung finden konnten, hatten es schwieriger. Sie mussten vor allem zu Beginn ihrer Tätigkeit mit neuen Einstellungen klarkommen und sich mit Abläufen im Arbeitsprozess erst vertraut machen. Vermisst haben sie vor allem die Pünktlichkeit, klare Strukturen und Ordnung. Geärgert haben sie sich über das »sehr ausgeprägte« Hierarchiedenken und die große Konkurrenz unter den Kolleginnen und Kollegen. Vor allem aber die »unprofessionelle« Arbeitsweise von staatlichen Behörden und Institutionen, wie Banken oder Versicherungen, brachte sie an den Rand der Verzweiflung.

»In einer Bank in Deutschland wird alles reibungslos abgewickelt … Hier dauert es Tage, bis du ein Konto eröffnet und von dem Bankangestellten die IBAN-Nummer bekommen hast. Da stimmt was nicht, wenn die sagen, ›Das kommt erst morgen raus‹«, moniert Yasemin Kaya verärgert.

Viele der Befragten hat es viel Zeit und Kraft gekostet, um sich an die Zustände im Istanbuler Alltag und Berufswelt zu gewöhnen. Für nicht wenige ist vieles weiterhin unverständlich und sie fühlen sich in Istanbul weiterhin fremd, auch wenn keine der Befragten ihren Schritt in die Türkei bereut.

Ein Großteil der abgewanderten türkeistämmigen Hochqualifizierten erzählt, im kosmopolitischen Istanbul ihre deutsch-türkische Identität besser als in Deutschland ausleben zu können. Selbst eine Befragte, die in Istanbul beruflich und sozial nicht Fuß fassen konnte und über einen Umzug nach Deutschland nachdachte, möchte ihre Istanbul-Erfahrung nicht missen:

»Ich habe hier sehr schnell am eigenen Leib gespürt, dass das Türkische nicht wirklich meine Wurzeln sind und dass ich eigentlich viel mehr in Deutschland verwurzelt bin, viel mehr Deutsches in mir habe, als mir damals in Deutschland bewusst war … Erst hier in der Ferne wurde mir das klar.«

Ist die Rückkehr nach Deutschland eine Option? Ein Befragter antwortet hierzu ironisch: »Wir sind wie unsere Eltern. Die haben auch immer gesagt, ›Wir gehen zurück‹. Aber die leben jetzt schon seit 40 Jahren dort. Vielleicht wird es bei uns auch so kommen.«

Resümierend lässt sich sagen, dass berufliche Gründe, wie etwa bessere Karriere- und Aufstiegsmöglichkeiten, bei Abwanderungsentscheidungen von türkeistämmigen Hochqualifizierten eine zentrale Rolle spielen. Fehlende Identifikation mit Deutschland bzw. fehlendes Heimatgefühl in Deutschland spielen eine eher untergeordnete Rolle. Der überwiegende Teil der Abgewanderten will sich weder für die deutsche noch für die türkische Identität entscheiden. Viele betonen, dass ihnen beide Identitäten und beide Kulturen wichtig sind. Auch diejenigen, die aus kulturellen Gründen aus Deutschland abgewandert sind, sei es um das Land der Eltern besser kennenzulernen oder weil sie sich eher türkisch als deutsch fühlten, betonen, dass sie in der Türkei ihr »Deutschsein« entdeckt haben.

Ein wichtiger Faktor sind die rechtlichen bzw. staatsbürgerlichen Rahmenbedingungen, wie etwa die Mavi Kart-Regelung (Blaue Karte).[2] Die abgewanderten türkeistämmigen Hochqualifizierten besitzen den deutschen Pass und die türkische Blaue Karte, die ihnen von staatlichen Migrationspolitiken unabhängige Niederlassungsmöglichkeiten bietet. Auf der Grundlage statistischer Daten lässt sich sagen, dass sich die türkeistämmigen Hochqualifizierten hinsichtlich der Abwanderungsabsichten und Abwanderungsentscheidungen von deutschen Hochqualifizierten ohne Migrationshintergrund kaum unterscheiden. Vielmehr ist hier eine Angleichung festzustellen. Im Hinblick auf die Frage nach transnationalen Räumen und Diasporastrukturen ist zu betonen, dass, trotz einiger Indizien vorliegende Forschungsergebnisse eine eindeutige Aussage nicht zulassen.

 
 

Weitere Informationen

Dieser Artikel ist das Ergebnis von zwei noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekten, in deren Rahmen in Deutschland mit abwanderungswilligen und in der Türkei mit abgewanderten Hochqualifizierten türkischer Herkunft qualitative Interviews durchgeführt werden: »Abwanderungsabsichten und Abwanderung von Hochqualifizierten türkischer Herkunft aus Deutschland in die Türkei« von Yasar Aydın (HWWI) und die Vorstudie zu dem Projekt »Auf nach Istanbul: Zur Abwanderung von Hochqualifizierten deutschen StaatsbürgerInnen mit und ohne türkischem Migrationshintergrund«, das Barbara Pusch im Orient-Institut Istanbul als Drittmittelprojekt vorbereitet.

 

Dr. Yaşar Aydın hatte diese empirische Forschung im Jahr 2012 abgeschlossen und am 23. Januar 2013 als Buch mit dem Titel „»Transnational« statt »nicht integriert«: Abwanderung türkeistämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland“ publiziert.

 
 

Fußnoten

[1] Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Türkeistämmigen, weil die Befragten nicht nur aus ethnischen Türken bestehen, sondern teilweise Minderheiten angehören.

[2] Blaue Karte: Türkischer Personalausweis, der den ehemaligen türkischen Staatsbürgern nach Ausbürgerung verliehen wird. Die Besitzer der Blauen Karte sind weitgehend gleichgestellt und genießen außer aktives und passives Wahlrecht, Verbeamtung, Militärdienst etc. fast alle Rechte. Besitzer dieser Karte haben einen fast unlimitierten Zugang zum türkischen Arbeitsmarkt. Während ausländische Staatsangehörige in der Türkei nur dann eine offizielle Arbeitsgenehmigung bekommen, wenn für ihre spezifische Tätigkeit keine einheimische Arbeitskraft gefunden wird, benötigen Inhaberinnen und Inhaber der Blauen Karte keine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis in der Türkei.

 

Siehe: http://www.hwwi.org/publikationen/hwwi-insights/hwwi-insights-ausgabe-03-2011/istanbul-chance-oder-utopie.html

 

Dr. „Yaşar Aydın ist (* 22. Mai 1971 in Artvin/Türkei) ist ein türkischstämmiger deutscher Sozialwissenschaftler in Hamburg/Deutschland. Er studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Hamburg (2001) und Lancaster (2002). Er war während des Studiums und der Promotion Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und ist Mitglied des Hamburger TürkeiEuropaZentrums.

Nach Abschluss des Studiums war Yaşar Aydın wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hamburger Institut für Sozialforschung und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. 2009 promovierte er mit dem Thema „Topoi des Fremden: Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion“ in Hamburg. Vom August 2009 bis März 2012 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut an einem Projekt mit dem Thema „Abwanderungsabsichten und Abwanderung von Hochqualifizierten türkischer Herkunft aus Deutschland in die Türkei“. Im Jahr 2015 war er als Lehrbeauftragter an der HafenCity Universität Hamburg (HCU) tätig. Zuletzt forschte er an der SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik zur türkischen Außenpolitik und lehrt zurzeit an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie.“ (Quelle: Wikipedia)

 
 
 

Foto / Picture thanks to © Dr. Yaşar Aydın (Hamburg/Germany)