Viele, zu viele Hochbegabte leben unter ihren Möglichkeiten


© Malcolm Liepke
 

Von Çiğdem Gül – 22.09.2016

 

In der Gesellschaft und bei Leistungssystemen wie Schule, Hochschule und Arbeitswelt werden mit Hochbegabung Privileg und Erfolg gleichgesetzt. Und gerade sie sind diejenigen, die wiederum mit ihren herkömmlichen und auf Mittelmaß ausgerichteten Maßstäben die Mehrheit der Hochbegabten daran hindern, ihr Ich auszuleben, glänzende Leistungen zu erbringen und Erfolg zu haben.

Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass in der Wirtschaft bzw. Arbeitswelt die Spitzenpositionen überwiegend von kranken Narzissten und Soziopathen mit selbst wahrgenommenem grandiosen „Ich“ besetzt sind, die nicht mal ein Hauch von Kritik und Verbesserungsvorschläge dulden; geschweige denn, die Existenz eines Hochbegabten im Team ertragen können. So kommt es vor, dass Hochbegabte missverstanden, beneidet, ausgebremst, sanktioniert und gar gemobbt werden. Auch dort, wo es keine Narzissten und Soziopathen gibt, kann dies passieren. Das kann für einen Betroffenen fatale Folgen haben. Aber auch für die Gesellschaft, die solche Leuchttürme instinktiv oder absichtlich selbst auszulöschen versucht.

Die Mehrheit der insbesondere spät erkannten Hochbegabten wachsen nicht über ihre Grenzen, sondern bleiben unter unseren Möglichkeiten.

Oftmals liegt es nicht an der fehlenden Motivation, Leistungsbereitschaft, Kreativität – auch in der Lösungsfindung – und Ehrgeiz, sondern an externen Vorurteilen und Hindernissen. Hochbegabte werden oftmals in der Matrix der Gesellschaft, des herkömmlichen Leistungssystems durch Durchschnittsbegabte, Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung und Soziopathen ausgebremst und sanktioniert. Auf die Bedürfnisse von Hochbegabten werden selten Rücksicht genommen. Die Tatsache, dass Hochbegabte sich ständig in die Schablone des Mittelmaßes pressen sollen und müssen, kann sie auf Dauer sehr belasten und krank machen. Es ist also auch nicht verwunderlich, dass insbesondere die spät erkannten Hochbegabten eine lange Zeit Trauer – auch Trauer um sich selbst – in sich tragen. Sie wollen nach der Trauerzeit und um verpassten Chancen nun ihre Flügel ausbreiten und in ihrem Tempo „fliegen“. Ihnen werden die Flügel jedoch von Anderen schnell gebrochen. Viele Hochbegabte müssen immer wieder ihre Flügel reparieren oder sie neu wachsen lassen. Sie wachsen zum Glück sehr schnell nach…:-)

Ich stamme aus Anatolien. Dort werden die negativen  Gefühle (keine Bewertung, sondern Beschreibung) wie Traurigkeit und Trauer nicht wie in Europa stiefmütterlich behandelt, sondern integriert und kollektiv – auch mit selbstgespielter Livemusik, Klagelieder und gemeinsames Trauermahl – zelebiert. Von Kindesbeinen an wird der natürliche Zugang zu diesen Gefühlen gefunden.

Die Meinungen gehen sehr weit auseinander, wenn es darum geht, ob man in der Arbeitswelt die eigene Hochbegabung preisgeben sollte oder nicht. Ich persönlich würde die eigene Hochbegabung beim Lebenslauf nicht erwähnen, auch wenn man diesbezüglich eigene Blogs und Webseiten im Internet hat. Nach Antritt des Arbeitsverhältnisses würde ich es erwähnen, wenn man darauf angesprochen wird. Und man wird recht schnell darauf angesprochen oder reagiert. Das Anderssein wird von Kollegen sowieso gespürt und erkannt, auch wenn man als Hochbegabter den Mund nicht aufmachen würde und sich tarnen würde. Ständiges sich-Bremsen auf der Leistungsebene kann wie gesagt krank machen. Ein weiser Mann sagte mal zu mir fast wortwörtlich: „Çiğdem, auch wenn du dich (im Angestelltenverhältnis) bei der Arbeit bremsen und auf Sparflamme arbeiten würdest, so wärst du immer noch um ein Vielfaches schneller und besser als die Anderen.“ Das sind Worte, die mich sehr nachdenklich stimmten. An Freude war gar nicht zu denken.

Es stellt sich die Frage, wie es den Hochbegabten gelingen kann, ihr Ich in der Hochbegabung und in allen Lebensbereichen in Vielfalt darzustellen und auszuleben, ohne großen emotionalen, gesundheitlichen, finanziellen Schaden davon zu tragen. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden; denn jede Antwort und Lösung würden wahrscheinlich unterschiedlich, aber gleich gut ausfallen.

Hochbegabte, die ihre Begabungen nicht missbrauchen, tragen von Natur aus große Verantwortung für die Gesellschaft Nun ist es an der Zeit, dass die Gesellschaft auch mal was für die erwachsenen Hochbegabten tut. Das Lebensgefühl eines – auch spät erkannten – erwachsenen Hochbegabten würde sich zunehmend zum Positiven ändern, wenn er einmal das Gefühl hätte, dass das System auch etwas für ihn tut bzw. ihm etwas zurückgibt.

 

Çiğdem Gül
Diplom-Ökonomin, Interkultureller Coach für Hochbegabte und Hochsensible, freie Journalistin

 
 

Anmerkung:
Ein schlechter Chef, so viel steht fest, ist nicht automatisch ein Narzisst, Soziopath oder Psychopath. Diese Diagnose können ohnehin nur ausbildete Psychiater stellen.

Ich habe in meinem obigen Fachartikel ganz bewusst mit direkten und sehr deutlichen Worten eine Gesellschaftskritik ausgeübt. Ich wünsche, dass diese von meinen Leserinnen und Lesern auch so aufgefasst wird. Es geht mir in erster Linie nicht darum, mit dem Zeigefinger auf einen Schuldigen zu zeigen, sondern die Gesellschaft dazu einzuladen, die eigene Haltung und Handlung zu überdenken, zu reflektieren und sich mit dem Thema der Begabten und Hochbegabten auseinanderzusetzen, damit die eigene paradoxe Haltung ihnen gegenüber die Chance erhält, abgeschwächt oder gar eliminiert zu werden. Eine authentische, achtsame und wohlwollende Begegnung, Beziehung (egal welcher Art) und/oder berufliche Zusammenarbeit setze ich auf beiden Seiten voraus. Schließlich hätte sowohl die Gesellschaft als auch die Hochbegabten eine win-win-Situation, wenn beide Seiten zunehmend aufeinander zugehen würden und ihre Handlungen auf bedürfnisorientierte Dialoge ausrichten würden.

 
 
 

Themenbezogene Tipps zur Literatur, Studien und Quellen:

Siehe die Studie der Psychologinnen Belinda Board und Katarina Fritzon aus dem Jahr 2005.

Siehe die Forschungsergebnisse der US-Psychologin Deborah Gruenfeld von der Stanford-Universität.

Siehe die Studie des kanadischen Psychiaters Robert Hare (emeritierter Professor der Universität von British Columbia) und seines Kollegen Paul Babiak.

 

Siehe Zeit.de
„Narzissten sind in Führungspositionen überrepräsentiert. […]“ 

http://www.zeit.de/karriere/2015-08/fuehrung-narzissmus-studie

 

Siehe Zeit Online:

„Persönlichkeitsstörung: „Auffällig viele Psychopathen werden Chef“
„Sie manipulieren andere, sind erfolgreich – und gefährlich. Überdurchschnittlich viele Psychopathen schaffen es ins höchste Management, sagt der Psychologe Jens Hoffmann.“

http://www.zeit.de/karriere/beruf/2014-05/psychopathen-interview-psychologe-jens-hoffmann


Siehe Zeit Online:
„Führungsstil: Was Chefs mit Psychopathen gemein haben“
„Studien zeigen: Manager zeigen überdurchschnittlich oft psychopathische Auffälligkeiten. Das macht sie erfolgreich. ..“
Von Daniel Rettig

 http://www.zeit.de/karriere/beruf/2011-09/fuehrungskraefte-chefs-typen

 

Siehe manager magatin, Ausgabe 25.10.2014:
„Zeitbomben mit Schlips – Psychopathen in der Chefetage“

Quelle: goo.gl/fZw7UF

 
 
gaze
 
 

Pictures thanks to © Malcolm T. Liepke

Die Bilder wurden mit ausdrücklicher und freundlicher Erlaubnis des Künstlers Malcolm T. Liepke veröffentlicht.