Die hochsensible Border-MENSCH-linerin


noell oszwald - Kopie

 

Von Çiğdem Gül, 2010

Teil 1

„Ich habe eine Katze. Sie liebt sogar gefüllte Weinblätter,“ sagte Özüm (Name von der Autorin geändert) und schmunzelte. Sie hatte wirklich eine süße, schwarz-weiß getigerte Katze, die ich später kennenlernte und sehr liebte.

Und wir redeten fröhlich weiter…

Ich sagte: „Du hast eine Katze? Oooh, wie schön!… Ich habe eine Katze namens `Eşkiya´ und einen Kater namens `Süslü´. Süslü ist sehr frech…“ Dann wurde ich ernst, als ich weitererzählte. „Als ich neulich bei meinem Hausarzt war, hatte er während der Vorsorgeuntersuchung auf Hautkrebs meine vielen Kratzer auf der Innenseite meines rechten Handgelenkes festgestellt. Der Arzt fragte mich, ob ich mich selbst verletzt hätte. Dabei hatte mich mein Kater beim gemeinsamen Spielen und Raufen am Handgelenk so verunstaltet. Wie sollte ich diesem Arzt glaubhaft machen, dass ich mich nicht selbst verletzt habe, sondern das `Werk´ meines Katers am Handgelenk trug? … Der Hausarzt grinste, als ich von meinem Kater und den Kratzern erzählte. Er zeigte mit den Fingern auf mein Handgelenk und erklärte mir, wie man sich die Adern am Handgelenk richtig aufschneidet… sooo entlang des Handgelenkes und nicht so, wie meine Kratzer dort verliefen. Soviel zum Thema fehlendem Respekt und Feingefühl eines groben Menschen, der als Arzt auf die Menschheit losgelassen wurde. Seitdem habe ich diesen Arzt nie wieder aufgesucht… Özüm, weißt du überhaupt, was Borderline Persönlichkeitsstörung ist?“, fragte ich mein Gegenüber.

Meine Gesprächpartnerin, die ich erst vor kurzem kennenlernte, schaute mich im Cafe entsetzt an. „Jahhh. Ich weiß, was Borderline Erkrankung ist!“, antwortete sie energisch und kurzgebunden. In Bruchteilen von Sekunden änderten sich ihre Blicke. Sie nahm ihre gruseligen Blicke auf. Später durfte ich erfahren, dass sie damit eher ihre Unsicherheit zu kaschieren versuchte.

Mir lief ein Schauer über den Rücken.

In diesem Moment wusste ich sofort, dass ich mit einer Betroffenen im Cafe saß.

Unser Schweigen füllte den Raum.

Meine erste Begegnung mit dieser gleichaltrigen Frau türkischer Herkunft entstand zufällig. Özüm ist eine schöne Frau. Wenn man ihre alten Fotos betrachten würde, so würde man keine türkische, sondern eine indische Naturschönheit sehen… Ihre langen braunen Haare trug sie fast immer offen zu ihrer zwischen weich und hart wechselnden Ausstrahlung.

Özüm unterbrach unser Schweigen mit den Worten: „Ja, ich bin eine Borderlinerin.“

Was suchte ich hier überhaupt?

Noch nie hatte sich ein mir fast unbekanntes Gegenüber als Betroffene der Borderline Persönlichkeitsstörung geoutet. Was sollte ich jetzt tun?

Ich muss zugeben, dass ich selbst sehr unsicher war und durcheinander wurde. Vor dem Hintergrund meiner Überlastung mit dem Aufbau meiner beruflichen Selbständigkeit, meiner vielen Tanztheater-Proben für die bevorstehenden Aufführungen und meiner Vorbereitung auf die Führerschein-Prüfung etc., hatte ich wenig Interesse und wenig Kraft, mich einer weiteren Herausforderung zu stellen. Außerdem kannte ich mich mit dem Thema der Borderline Persönlichkeitsstörung noch recht wenig aus. Ich wusste noch nicht, worauf ich bei einem evtl. privaten Kontakt mit einer Betroffenen achten müsste. Zuletzt lernte ich während meiner beruflichen Hospitation in der geschützten und geschlossenen Akut-Station einer Psychiatrischen Klinik ein von Kopf bis Fuß zugerichtete Betroffene. Als hätte sich die junge Frau mit einem großen Messer oder Axt von Kopf bis Fuß geschnitten. Sie wies kaum eine ungeschnittene Hautstelle im Gesicht und an den offen stehenden Körperteilen wie Hals, Dekoltee, Arme, Hände und Beine auf. (Bitte berücksichtige, dass sich nicht jede/r BorderlinerIn die Haut ritzt, um sich selbst zu spüren und/oder zu bestrafen). Sogar die meisten Ärzte und Therapeuten geraten an ihre Substanz bei Patienten mit dieser Erkrankung.

Die Tatsache, dass Özüm und ich nicht nur aus dem selben Herkunftsland Türkei stammten, sondern auch aus derselben Herkunftsstadt in Anatolien kamen, berührte mich in dieser Situation zusätzlich. Ich war hin-und hergerissen. Özüm spürte sofort meine Ambivalenz. Und überhaupt spüren Borderliner mit ihren feinen Antennen alles. Man kann ihnen nichts vormachen. Dafür können „sie“ ihrem Gegenüber aus der seelischen Notlage heraus sehr viel vormachen und sie versuchen mit größter Professionalität zu manipulieren. Das war mir bewusst.

Im Cafe fühlte ich mich sehr unruhig. Es lag also nicht an der Musik oder am Location; schließlich saß ich in meinem Lieblingslocation `Esperanza´. Ich wusste nicht, was ich mit einer Betroffenen besprechen sollte, die mir mit ihren gruseligen Blicken Angst machte. Schließlich kannte ich sie nicht. Ich konnte mir in dieser Situation nicht anders helfen als Özüm vorzuschlagen, das Gespräch zu beenden. Kurze Zeit später verließen wir das Cafe. Kurzgebunden verabschiedete ich mich von Özüm, nachdem ich sie bis zum nächstgelegenen Parkplatz zu ihrem Fahrzeug begleitete.

„Was ist los mit dir? Werden wir uns wieder sehen?“ fragte Özüm.

An ihren Blicken konnte ich Enttäuschung und zugleich Verunsicherung ablesen. „Ich weiß es nicht. Ich möchte darüber nachdenken“, erinnere ich mich, ihr geantwortet zu haben.

Özüm hinterließ bei mir beginnend an diesem Abend ein ambivalentes Gefühl. Ab diesem Moment bis zu meiner letzten Begegnung mit ihr (nach vier Monaten) blieb auf mich zurückgelassenes Schuldgefühl und schlechtes Gewissen… obwohl ich wusste, keine haben zu müssen. Und genau das sind die meist eingesetzten Manipulationswaffen der Menschen mit Borderline Persönlichkeitsstörung.

Ein Tag später schrieb mir Özüm sinngemäß: „Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du den Kontakt zu mir nicht möchtest? Habe ich einen Fehler gemacht?“

„Nein, du hast keinen Fehler gemacht. Ich bin zur Zeit – auch gedanklich – sehr mit den Vorbereitungen auf meine Führerschein-Theorie-Prüfung beschäftigt. Was Dich anbetrifft, bin ich hin-und hergerissen… Du bist eine sehr sympathische Frau, die sehr viel Schönes im tiefsten Kern trägt. Das sehe ich und das spüre ich. Für einen privaten Kontakt stelle ich mir die Krankheit als eine große Herausforderung und Hindernis vor. […] Daher weiß ich nicht, ob ich zur Zeit grundsätzlich dazu bereit bin, eine Freundschaft aufzubauen. Das sind gerade meine ehrlichen Gedanken und Gefühle… Ich hoffe, Du bist mir nicht böse deswegen… Liebe Grüße, Çiğdem“, antworte ich ihr per E-Mail. Und prompt traf in meinem Mail-Briefkasten ihre mit Verzweiflung und zugleich Manipulation behaftete Antwort, die ich hier aus Datenschutzgründen nur sinngemäß in komprimierter Form mit meinen Worten wiedergeben möchte: „Çiğdem, ich kann dich verstehen. Aber findest du nicht, dass du mir gegenüber mit Vorurteil reagierst, indem du eine Szenario zeichnest mit vermeintlichen Verhaltensweisen von mir, die ich an den Tag legen könnte? Ja, ich bin an Borderline Persönlichkeitsstörung erkrankt. Leider habe ich sie mir nicht ausgesucht. Betroffene wie ich sind sehr einsam. Die türkische Gesellschaft in Deutschland ist noch härter als die nicht-türkische Gesellschaft, was Vorurteile und Sanktionen gegenüber Borderliner anbetrifft. […] Andere Menschen wechseln die Straßenseite, wenn sie hören, dass man an Borderline erkrankt ist. Aber ich habe dir bereits am Vorabend im Cafe gesagt… meine Persönlichkeit besteht nur aus 20% Borderline die restlichen 80% sind eine normale und starke Persönlichkeit…. aber Menschen fixieren sich nun mal auf die 20%…“ (ich konnte Özüm auch später nicht sagen, dass ihre Erkrankung eine SCHWERE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG ist und ihre Definition von Persönlichkeit komplett falsch war. Ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen.) Özüm schrieb weiter: „[…] ich bin auch vorsichtiger geworden, was Frauenfreundschaften angeht, aber ich verurteile Menschen nicht wegen ihrer Störung… Ich gebe ihnen eine Chance, sie besser kennenzulernen… Um überhaupt ein Urteil über einen Menschen fällen zu können, muss ich diesen Menschen gut kennen…..aber wir beide sind gerade mal in der Kennenlernphase….und du sprichst von meinen Aktionen die noch nicht mal stattgefunden haben. […] Ich dachte, gerade DU… […] würdest Verständnis und Geduld aufbringen. Aber nein!, Çiğdem, ich will dich nicht umstimmen. Ich bin dir auch nicht böse. Ich bin etwas enttäuscht und weine im Moment. (Wenige Monate später erzählte sie mir, dass ihr an dem Tag dieser Nachricht rote „Tränen“ flossen. Sie hatte sich also am Handgelenk geritzt und es bluten lassen, bis sie sich wieder beruhigen konnte) Ich wünsche dir alles Gute im Leben… Pass auf dich gut auf! Grüße, Özüm.“

Ich verstand die Welt nicht mehr.

Noch am selben Tag recherchierte ich im Internet über diese Erkrankung. Ich wollte wissen, was diese psychische Erkrankung auf sich hat und worauf ich im Kontakt mit einer Betroffenen achten müsste. Ich wollte nicht zu denen gehören, die aus Unwissen und Berührungsangst bei einer Borderlinerin Vorurteile auslebte und ihr zusätzliche Schmerzen verursachte. Nach wenigen Jahren… weiß ich heute – auch nach jahrelanger Berufserfahrung als selbständige rechtliche Berufsbetreuerin -, dass für mich bei den psychischen Erkrankungen die Borderline Persönlichkeitsstörung die größte Herausforderung darstellt. Ich weiß nicht genau, ob ich damals den Kontakt zu Özüm fortgesetzt hätte, wenn ich weniger Belastung gehabt hätte. Nichtsdestotrotz haben alle Menschen, die unter einer psychischen Erkrankung leiden, dieselbe Wertschätzung und Respekt verdient, wie die vermeintlich Gesunden. Und diese Wertschätzung versuchte ich Özüm zu geben.

In der Folgezeit erlebte ich mit Özüm einige schöne Momente, Gespräche und Unternehmungen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Jedoch kristallisierte sich zunehmend heraus, dass Özüm´s schwere psychische Erkrankung und ihre dazugehörigen extremen Verhaltensweisen mich zu sehr belastete; denn bei dieser privaten Bekanntschaft war ich auch emotional involviert. Um in meiner damaligen Gesamtsituation mich selbst zu schützen und abzugrenzen, musste ich ihr den privaten Kontakt nach vier Monaten beenden.

 

Teil 2

Die Bezeichnung `Borderliner´ für Betroffene ist wertschätzend gemeint und keinesfalls als Abwertung zu verstehen. Die verwendeten Bezeichnungen sind als geschlechtsneutral anzusehen und gelten für Frauen und Männer gleichermaßen. Im Folgenden findest du einige wichtige Informationen und meine Aussagen über die Borderline Persönlichkeitsstörung (= BPS):

 

Man wird nicht als Borderliner geboren.

 

Die Mehrheit der Borderliner haben als Kind mit schreienden Augen das Ur-Vertrauen in diese Welt verloren.

 

MENSCHen mit Borderline Persönlichkeitsstörung sind in erster Linie Betroffene,
die insbesondere durch die Familienangehörige, Verwandten und Bekannte seit dem Säuglingsalter, Kindesalter oder Jugendalter nach – jahrelanger – Verwahrlosung, schwere Vernachlässigung, Vergewaltigung und/oder sexuellem Missbrauch sowie Gewalterfahrung zu Borderlinern geworden sind.

 

In der deutschen Sprachenlandschaft bezeichnet man `Borderline als Grenzlinie bzw. grenzwertig. Früher wurde die Störung nämlich im Grenzbereich zwischen den neurotischen Störungen und den psychotischen Störungen eingeordnet, da man Symptome aus beiden Bereichen identifizierte. In der Psychotraumatologie zählt man das Symptombild zu den komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen.

Meist manifestiert sich eine Borderline Persönlichkeitsstörung erst im Teenageralter. Nach Aussage der TherapeutInnen, mit denen ich als rechtliche Berufsbetreuerin beruflich zusammenarbeite und der PsychiaterInnen sowie ÄrztInnen – auch der Psychiatrischen Klinik -, mit denen ich ebenfalls beruflich zusammenarbeite, sind die Symptome der Erkrankung umso ausgeprägter, je gravierender die Erlebnisse der Betroffenen sind. Nicht jeder Betroffene hat ein traumatisches Erlebnis in seiner Vergangenheit, und nicht jeder Mensch entwickelt durch schlechte Erfahrungen automatisch eine Persönlichkeitsstörung.

Glaubt man der Sichtweise der Tiefenpsychologie, so sei die Ursache der Borderline-Störung auf die frühen Phasen der kindlichen Entwicklung zurückzuführen. Es wird angenommen, dass in diesen Phasen der kindlichen Entwicklung der innerseelische Mechanismus der Spaltung von nicht miteinander zu vereinbarenden Konflikten an Dominanz gewinnt. Dadurch fehlt dem `Ich´ die Fähigkeit, Gefühle oder Wahrnehmungen gegensätzlicher Qualität in sich zu vereinen bzw. miteinander zu integrieren. Eigene Gefühle und Wahrnehmungen, die widersprüchlich sind, stehen im innerseelischen Raum zusammenhangslos zueinander. Folglich entsteht ein Schwarz-Weiß-Denken. Andere Menschen werden so z. B. als nur gut oder als nur böse wahrgenommen. Bei einer solchen Störung sind bestimmte Bereiche von Gefühlen, des Denkens und des Handelns sehr beeinträchtigt, was sich durch negatives und teilweise paradox wirkendes Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie im gestörten Verhältnis zu sich selbst äußert. Die resultierende Instabilität zeigt sich insbesondere im emotionalen und im zwischenmenschlichen Bereich. Der Betroffene sucht in persönlichen, emotionaleren Beziehungen sehr viel Nähe, die er dann aber nur schwer zulassen kann, weil nach einer tieferen Bindung eine evtl. anschließende Trennung dem Betroffenen neue innere Narben hinterlassen würde. Außerdem ist der Betroffene stets sehr stark bemüht, in Beziehung aller Art ein tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Er wechselt zwischen den beiden Extremen der Überidealisierung und anschließender Abwertung seines Gegenübers. Schließlich kann es passieren, das der Betroffene aufgrund der seelischen Notlage heraus seine Kontakte nicht pflegen kann, bei Konflikten ohne Aussprache einfach den Weggang bevorzugt, aber auch sein Gegenüber erpresst oder manipulatives Verhalten an den Tag legt. Für Angehörige und andere Nahestehende ist diese Unberechenbarkeit schwer zu ertragen. Instabile, kurze Beziehungen sind deshalb häufig – sogar in der Zusammenarbeit mit dem Therapeuten. Sehr häufig treten im Zusammenhang mit instabilen Beziehungen auch schwere dissoziative Zustände auf. Hierbei sind gewöhnlich selbstschädigende Verhaltensmuster bei den Betroffenen zu beobachten, z. B. im verschwenderischen Umgang mit Geld, Drogenkonsum, rücksichtslosen Autofahren, wahllosen Sexualpartner, Diebstahl und Essstörungen wie Bulimie und/oder Magersucht. Alle Betroffene der Borderline Persönlichkeitsstörung, ich die bisher privat und beruflich kannte und kenne, weisen mindestens eine Essstörung auf.

Im Laufe meiner Bekanntschaft mit Özüm, gab sie mir gegenüber mehrfach zu, dass sie in der Vergangenheit an Bulimie litt. Aktuell würde sie in der gemeinsamen Wohnung mit ihrem Mann die Nahrungsaufnahme regelmäßig heimlich wieder auskotzen, damit sie abnehme. Sie fühle sich nicht attraktiv und habe Angst, ihren Mann an andere Frauen zu verlieren. Ihrem Partner, der über ihre Erkrankung Bescheid weiß und damit sichtlich überfordert war, habe sie erzählt, dass sie durch gesunde Ernährung einige Kilo abgenommen hätte.

Als weitere typische Symptome dieser schweren Persönlichkeitsstörung sind – aufgrund der gestörten Affektregulation – die aggressiven Ausbrüche. Borderliner sind auch im Erwachenenalter emotional auf dem Stand eines dreijährigen Kindes. Ihre häufig unangemessene, heftige Wutausbrüche können sie nur schwer kontrollieren. Es können wiederholte körperliche Auseinandersetzungen folgen. Borderliner kommen aus den Gefühlen wie Traurigkeit und Wut nur sehr schwer heraus. So kann es häufig passieren, dass ein Betroffener wegen einer Lapalie den ganzen Tag oder länger mit Wut im Bauch durch die Gegend läuft. Die BPS wird sehr häufig von weiteren Belastungen begleitet, darunter auch Depressionen.

Betroffene der BPS können durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen durchleben.

Borderliner fühlen sich von der Außenwelt oftmals nicht verstanden. Laut Aussagen der Betroffenen, die mir bekannt waren und sind sowie nach eigenen Beobachtungen kann ich bestätigen, dass die Betroffene in der Familie und Außenwelt vielen Vorurteilen, Ausgrenzungen, Diskriminierungen und verbalen Angriffen ausgesetzt sind.

Des Weiteren ist oft das Gefühl der Leere oder Langweile ein sehr typisches Symptom dieser Erkrankung. Ohne Sicherheit spendende Tagesstruktur werden die starken Stimmungsschwankungen der Betroffenen zum Drahtseilakt ohne Fangnetz. In diesem Zusammenhang ist häufig auch selbstverletzendes Verhalten zu beobachten. Für Außenstehende erschreckend sind die Verletzungen, die sich Borderliner häufig selbst zufügen. Schnittverletzungen an der Innenseite des Unterarmes oder Brandverletzungen durch Zigaretten, Verletzungen auf der Brust und Beine: Auf der Haut vieler Betroffener ist eine Narben- Landkarte vieler psychischer Krisen zu sehen. Der Betroffene baut sich in manchen Fällen innerhalb von Sekunden einen solchen Druck auf, dass viele sich von sich selbst und ihrer Umwelt abgeschnitten und entfremdet fühlen und dissoziative Zustände mit teilweise sogar wahnhaften Ausprägungen erleben. „In dem Moment, während das warme Blut auf meiner Haut fließt, nachdem ich mir heimlich mein Handgelenk geritzt oder aufgeschnitten habe, spüre ich das wohlige Gefühl, den immensen Druck endlich ablassen zu können…“, erzählte mir eine Betroffene vor einigen Jahren während meiner Hospitation in der geschlossenen Station der Psychiatrischen Klinik, „…aber zugleich spüre ich den Hass mir selbst gegenüber und dass ich es verdient habe, bestraft zu werden…“ fügte sie hinzu. Für Außenstehende ist diese Zustandsbeschreibung einer Betroffenen erschreckend. Diese Betroffene erzählte mir weiter. „Ich bin in solchen Momenten wie ferngesteuert und nicht in der Lage, an die Folgen meiner Selbstverletzung zu denken. Meine körperlichen Schmerzen spüre ich dann zeitverzögert.“

Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen sind weitere Symptome dieser schweren Erkrankung. Nicht selten kommt es zur suizidalen Handlungen der Betroffenen. Die Suizidalität liegt bei diesen Betroffenen um ein Vielfaches höher als in der Gesamtbevölkerung. Özüm hatte mir gegenüber damals mehrfach Selbstmordandeutungen und Selbstmordabsichten mitgeteilt.

Es gibt viele Borderliner, die hochsensibel und/oder hochbegabt sowie kreativ sind. Im Umkehrschluss bedeutet es aber nicht, dass jeder hochsensible, hochbegabte und kreative Mensch ein Borderliner ist. Sie haben die feinsten Antennen, die ihnen ermöglichen, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Daher konnte z. B. Özüm sehr feinfühlig auf mich eingehen. Es gibt auch viele kreative Betroffene, so dass ich z. B. einige schillernde Travestie- KünstlerInnen kennenlernen durfte.

Die Borderliner können sehr gut schauspielern und sehr gut manipulieren. Sie können der Außenwelt suggerieren, wie gut es ihnen geht und dann im Hintergrund vielleicht im nächsten Moment Selbstmord begehen. Nur wenn man als Angehörige, Partner, Bekannte und Außenstehende neben den offensichtlichen Warnsignale auch die subtilen Warnsignale erkennt, kann man im Extremfall das Leben der Betroffenen retten.

Nach meinem Wissen gibt es keine Medikamente gegen das Borderline-Syndrom. Es gibt jedoch medikamentöse Behandlungen gegen einige Symptome der Erkrankung, wie z. B. gegen die Depression und ungezügelte Wutanfälle. Während meiner Hospitation in der Psychiatrischen Klinik  erzählte mir im Gespräch ein behandelnder Arzt, dass die Heilungschancen eines Borderliners ohne Behandlung 59 Prozent betragen würde und die Heilungschancen eines Betroffenen mit Behandlung 60 Prozent betragen würde. Es gibt Kliniken, in denen im Rahmen der Therapieangebote den Betroffenen das Fertigkeitentraining beigebracht wird. Die Betroffenen erlernen dort Maßnahmen, um selbstverletzendes oder sogar suizidales Verhalten zu kontrollieren. Das kann beispielsweise durch Ersatzreize wie das Gummiband um das Armgelenk geschehen, die helfen, die gefährlichste Phase des inneren Drucks zu überwinden.

Als Einzelne/r aller Gesellschaften, Schichten und Kulturen, ist es unsere Menschlichkeit, Pflicht und Aufgabe, Betroffene mit Borderline Persönlichkeitsstörung respektvoll und wertschätzend zu behandeln. Schließlich haben sie sich nicht ausgesucht, so fast unheilbar krank zu werden. Es wäre schon sehr viel getan, wenn wir Menschen unsere Vorwürfe, Vorurteile, Abwertung, Ablehnung, Diskriminierung und gar jede Form von Gewalt an Borderliner unterlassen würden.

Sicherlich ist es ein Unterschied, ob man beruflich oder privat mit Betroffenen der BPS zu tun hat. Ich wünsche insbesondere den Angehörigen der Betroffenen viel Kraft, Ruhe und Licht, dass sie ihre Schwerstarbeit mit Betroffenen bewältigen können. Auch sie sind nämlich mit Unsicherheit, Schuldgefühle, Überforderung, soziale Isolation betroffen, sobald sie zu ihrem kranken Angehörigen stehen.

 

Urheberrecht: Çiğdem Gül

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Picture thanks to © Noell Oszwald

Das interessante Bild ist mit ausdrücklicher und freundlicher Erlaubnis der Künstlerin und Urheberin Noell Oszwald veröffentlicht.