Gedankenstil? – Normalbegabte, Hochbegabte, hochbegabte Migranten


Margarita Kareva
 
 
 
 
 

Gedankenstil?

 
 

Normalbegabte, Hochbegabte, hochbegabte Migranten

 
 
 
 
 
cigdem-gül
 
 
 
 
 
 
 
 

Von Çiğdem Gül

Wuppertal-Deutschland: 07. März 2017

 
 
 

Teil 1: Zur Einführung in das geistige Gebäude des Menschen

 

Warum denken wir Menschen?

Was bedeutet Denken?

Denken als zentrales Thema in der Philosophie hat in allen Zeitepochen wichtige Vertreter beschäftigt. Alle Philosophen sind Denker. Während in der Historie andere Philosophen über die Welt nachgedacht hatten, war Sokrates der erste bekannte Philosoph, der sich mit Erkenntnissen und mit Generieren von Erkenntnissen beschäftigt hatte. Er hatte über das Verstandesmäßige „Nous“ als Instanz im Menschen, die die für das Erkennen und Denken zuständig ist, nachgedacht. Nach seiner Meinung sollten Metaphysik und Intuition mit dem Ratio bzw. Verstand in Einklang gebracht werden.Wissenschaftler, Dichter, Geistliche etc. beschäftigten sich ebenfalls intensiv mit dem Thema des Denkens. „Von allen Gaben des Menschen ist gesunder Menschenverstand die am gleichmäßigsten verteilte, denn jedermann hält sich für so reichlich damit versorgt, dass selbst diejenigen, die sonst in jeder Beziehung am schwersten zufriedenzustellen sind, für gewöhnlich kein größeres Maß an dieser Eigenschaft beanspruchen, als sie bereits besitzen“, hielt der französische Philosoph René Descartes [1] ironisch fest.

Denken findet nicht nur während der Stunden des Wachseins statt. Wir Menschen nehmen nur den bewussten Teil des Denkens wahr, das jedoch nur ein Bruchteil unseres Unterbewusstseins ausmacht. Der bewusste Teil des Denkens beinhaltet z. B. Wahrnehmen, Überlegen, Verstehen, Urteilen, Glauben und Wollen. Die meisten Menschen entwickeln daraus auch ein Gefühl, dass die unbewusste Ebene des Denkens gar nicht existiert. Der unbewusste Teil unseres Denkens basiert auf der Summe von allen Vorstellungen, Erinnerungen, Eindrücken, Motiven, Einstellungen, Wünschen und Handlungsbereitschaften, die in uns sind, aber nur auf der unbewussten Ebene aktiv sind. Unser Unterbewusstsein filtert also Informationen und Eindrücke, weil wir bewusst nicht alles aufnehmen können und andernfalls sehr überfordert wären. Folglich werden wir geschützt. Vor dem Hintergrund, dass unser Unterbewusstsein sehr viel mehr aufnimmt, als wir bewusst registrieren, kann es uns in entscheidenden Momenten z. B. den Weg weisen. Das nennen wir dann Intuition. Wie entsteht Intuition? Welche Hirnregion könnte bei der Intuition beteiligt sein? Diese Fragen kann ich leider nicht beantworten. Ich weiß nur, dass unser Unterbewusstsein die Führung für kurze Momente übernimmt, wenn Unstimmigkeiten, drohende Gefahr etc. besteht, z. B. bei einer anstehenden Entscheidung. Dann macht sich das Unterbewusstsein durch ein komisches Bauchgefühl bemerkbar. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir mit unserem Bauchgefühl in enger Verbindung stehen. Es gibt z. B. Normalbegabte mit ausgeprägter Intuition, die nicht bewusst denken, aber über ihr Denken intuitiv das Richtige tun. „Denken ist erheblich schwieriger und mühevoller als Träumen, und wir nehmen es übel, unseren Verstand `aufwecken´ zu müssen, wenn wir uns gerade einer angenehmen Träumerei hingeben“, [2] schrieb James Harvey Robinson im Jahr 1949 in seinem Buch „Die Schule des Denkens – Von der Bedeutung des Verstandes für den Aufstieg der Menschheit“ .

Ich hätte es bis vor wenigen Jahren niemals für möglich gehalten, dass die Gedankenstile der Menschen so unterschiedlich sein können. Der Gedankenstil der Normalbegabten auf der einen Seite und der Gedankenstil der Hochbegabten (zu ihnen zähle ich auch die Vielbegabten und Höchstbegabten) auf der anderen Seite. Dann gibt es noch Unterschiede im Denken zwischen Frauen und Männern, zwischen Menschen die mit beiden Hirnhälften und Menschen, die mit nur einer Hirnhälfte geboren wurden. Unterschiede im Denkstil gibt auch es zwischen hochbegabten Einheimischen und hochbegabten Migranten.

In der Gesamtbevölkerung in Deutschland sind zwei Prozent der Menschen hochbegabt. Sie verfügen über einen IQ von mindestens 130. Entgegen der allgemeinen Vorstellung der Mehrheitsgesellschaft macht jedoch z. B. eine sehr hohe Intelligenz nur einen kleinen Teil des Themas Hochbegabung aus. Es gibt auch einige andere Merkmale, die über einen IQ-Test nicht erfasst sind. Wenn wir jedoch bei dem Merkmal „Intelligenz“ bleiben, dann fragen wir uns irgendwann, wie unser geistiges Gebäude uns das Denken überhaupt ermöglicht.

Mein vorliegender Text dient als Versuch und Annäherung, die Kunstwerke der Denkweisen und ihre unterschiedlichen Denkweiten – ich bezeichne sie als „Denkstile“ – von Menschen zu beschreiben und ihren Sinn zu analysieren. Wenn z. B. bei Migranten die mehreren kulturellen Komponenten hinzukommen, taucht das Denken zusätzlich in andere Welten und Gefühle ein. Ich habe autobiografische Auszüge offenbart, um die Situation von hochbegabten Migranten – auch wenn sie nicht repräsentativ sind – deutlich zu machen. Mein subjektiver Text hat keinen wissenschaftlichen Anspruch.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde im Text die männliche Sprachform gewählt. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten jedoch für Angehörige beider Geschlechter.

 
 

Teil 2: Veranlagung ist nicht erlernbar – Die verschiedenen Arten des Denkstils

Bei der Verwendung der Bezeichnung „Hochbegabter“ kann ich ein gewisses Gefühl des Unbehagens nicht unterdrücken, weil mir dieser Begriff in keinster Weise gefällt. Ich möchte zumindest mitteilen, dass ich in allen meinen Texten, wie auch in diesem Text, den Begriff „Hochbegabter“ nicht als Auszeichnung oder als Label verwende, sondern lediglich als Fachbegriff und Beschreibung des Trägers. Ich verwende den Begriff „Normalbegabter“ und „Durchschnittsbegabter“ nicht als Abwertung, sondern lediglich als Fachbegriff und Beschreibung des Trägers. Auch diese Begriffe gefallen mir nicht. Ich kenne leider keine gleichwertige und passende Alternativ-Bezeichnungen.

 

2.1 Wie denken Normalbegabte?

Menschen denken nicht genug nach über das Denken oder besser gesagt: Sie denken vor allem nicht über das eigene Denken nach. Wenn ich z. B. Normalbegabte frage, wie ihr Denken funktioniert, dann schauen sie mich zumeist verwundert oder erschrocken an, weil sie sich über dieses Thema nie Gedanken gemacht haben. Denken läuft mit so hoher Geschwindigkeit ab, dass es eigentlich unmöglich zu sein scheint, einzelne Gedanken lange genug festzuhalten, um es genug zu studieren. Ich weiß nicht 100-prozentig, wie Normalbegabte in der Mehrheitsgesellschaft denken. Daher kann ich nur wagen, ohne Bewertung und ohne Abwertung, Vermutungen aufzustellen. Ich vermute, dass Normalbegabte einen eigenen Gedankenstil und Gedankensprünge haben, jedoch anders, nicht in der Komplexität, Schnelligkeit und Art und Weise wie bei den Hochbegabten. Ich gehe einen Schritt weiter und meine, dass ihre Gedankensprünge eher punktuell und temporär stattfinden, während bei Hochbegabten dies permanent als Dauerprozess stattfindet.

 

2.2. Wie denken Hochbegabte?

Man muss nicht hochbegabt sein, um vom Standard-Denkstil der Normalos abzuweichen; doch Hochbegabte denken oft anders. Es gibt verschiedene Arten zu denken, ob in Worten, in Zahlen oder in Bildern. Dozentin und Autistin M. Temple Grandin[3] beschreibt das Bilderdenken sinngemäß so, dass man im Matrix seines Erinnerungsvermögens das Gesuchte abstrakt in Bild abrufen kann. Menschen, die in Bildern denken, ersparen sich z. B. beim Einkaufen den Einkaufszettel. Während des Rundganges im Supermarkt unternimmt man einfach einen imaginären Rundgang durch die eigenen Küchenschränke und den Kühlschrank und weiß dann, was man noch einkaufen wollte oder muss.

Ich beobachte und erlebe, dass auch viele Hochbegabte über ihr eigenes Denken nicht nachdenken. Als Hochbegabter kriegt man den eigenen Denkstil kaum bewusst mit, weil die Gedankensprünge so automatisiert, schnell und intensiv ablaufen, als würde ein Koenigsegg Agera RS (mit seinen 447 km/h eines der schnellsten Straßenfahrzeuge der Welt) neben einem selbst rasen, obwohl das Fahrzeug in einem selbst, im eigenen Geist ist.

Der eigene Gedankenstil und Gedankensprünge bei hohem Tempo sind einer der wichtigen Merkmale von Hochbegabung, die über einen IQ-Test nicht erfassbar sind.

Bei Hochbegabten gibt es Ausschnitte von schnellen und mehrkanaligen Gedankengängen – vergleichbar mit mehrspurigen und mehrdimensionalen Autobahnen, auf denen zeitgleich viele Koenigsegg Agera RS bei sehr hoher Geschwindigkeit fahren.

 

Siehe Bild unten:

 
 
Vadim Makhorov

© Courtesy of Vadim Makhorov (Russia)

 
 

Des Weiteren finden im Wechsel gedankliche Beobachtungen der eigenen, mehreren Themenstränge statt. Der zentrale Punkt bei diesem Thema ist es, dass das Wechseln der Beobachtungen von Gedankensträngen an sich, die sogenannten „Gedankensprünge“, bei Hochbegabten den Gedankenstil ausmacht. Es findet eigentlich ein Wechsel der Beobachtung, aber nicht ein Wechsel der Gedanken statt. Dabei scheinen die Themenfelder weiterzulaufen. Der Hochbegabte richtet also während eines Gespräches kurzzeitig seine Aufmerksamkeit – wie eine innere Buchführung – auf innere andere Themen, aber in Wahrheit laufen alle diese Gedanken parallel weiter.

Hochbegabte besitzen zudem die Fähigkeit, auch Gedankenebenen miteinander zu verbinden und zu vernetzen. Nicht nur Beobachtungswechsel der eigenen Gedankenstränge, sondern auch die Gedankenverbindungen spielen bei den Hochbegabten also eine große Rolle. Hochbegabte können komplexe Informationen zu einem Gesamteindruck integrieren und erfassen somit größere Zusammenhänge. Ich habe mir von einer sicheren Quelle sagen lassen, dass Hochbegabte bis maximal zu sieben Schritten vordenken können. Bei Schachspielern könnte es anders sein. Hochbegabte haben die Fähigkeit, gedankliche Zugänge zu höheren Ebenen zu denken.

Obwohl ich mich tagtäglich mit dem Thema Hochbegabung beschäftige und in vielen meiner Texte auch meine selbst erkannte Hochbegabung thematisiere: Wenn ich privat auf Normalbegabte treffe, gibt es auch Momente im Gesprächsfluss, bei dem ich wirklich vergesse, dass ich Hochbegabte bin. Ich rede einfach drauf los und bemerke zunächst gar nicht, dass mein Gegenüber sich bereits überfordert fühlt oder mich missverstanden hat. Erst wenn ich feststelle, dass ich nicht verstanden wurde oder mein Gegenüber an seine Grenzen stößt und ich meine Gedanken bremsen soll, wird mir wieder bewusst, dass ich anders bin. Die Tatsache, dass ich mein Sprachlevel an meinen normalbegabten Gegenüber anpassen kann, ändert nichts daran, dass ich meinen Gedankenstil und Gedankenverbindungen auf hohem Tempo schwer bremsen kann. Der Bremsvorgang fühlt sich für mich an wie ein innerer Absturz. Es ist dasselbe, als würde man einen auf der Autobahn rasenden Koenigsegg Agera RS- Fahrer während des Überholvorganges zwingen, plötzlich zu bremsen. Ein Crash ist dann nicht mehr auszuschließen. Und stellt euch vor, wenn die Gedanken der Hochbegabten und Höchstbegabten wie ein Koenigsegg Agera RS rasen und die Außenwelt den Hochbegabten und Höchstbegabten ständig bremsen will, wie sie sich dann fühlen. Ich fühle mich in solchen Situationen innerlich wie abgestürzt und gecrashed. Kein schönes Gefühl, so zu leben.

 
 
 
Vadim Makhorov 2

© Courtesy of Vadim Makhorov (Russia)

 

Im Gegensatz zu Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung, die mit ihrem grandiosen Ich meinen, bei Gesprächen die Satzenden ihres Gesprächspartners zu kennen und sie deswegen ständig unterbrechen zu müssen, sind Hochbegabte wirklich in der Lage, bei Gesprächen die Satzenden ihres Gesprächspartners vorauszusehen. Daher kann es vorkommen, dass auch Hochbegabte, die gelernt haben, aktiv zuzuhören, ihren Gesprächspartner deswegen unterbrechen. In der Außenwelt wird jedoch ein solches Verhalten als respektlos wahrgenommen, während der Hochbegabte aus seiner Sicht nur seinem eigenen Gedankenstil folgt.

Hochbegabte werden innerlich unruhig, traurig und sogar krank, wenn sie dauerhaft kein geistiges „Futter“ bekommen und ihr Denken unterfordert ist. Dann fühlt es sich an wie ein innerer Absturz. Und das in ständiger und lebenslanger Gratwanderung zwischen geistiger Unterforderung und äußerlich erwarteter und gezwungener Bremsvorgang.

 
 
 
Margarita Kareva 2

© Courtesy of Margarita Kareva (Russia)

 
 

2.3. Wie denken hochbegabte Migranten?

Persönlichkeiten, die gesegnet und befähigt sind, zu fragen, zu hinterfragen, denen wird kulturübergreifend fast kein Raum in dieser Welt gegeben.

Hochbegabte Menschen denken viel komplexer und viel komplizierter als normal begabte Menschen. Sie denken zu komplex, um einfache Zusammenhänge zu erkennen.

Hochbegabte genießen den Vorteil, dass sie über eine erhöhte Problemlösekompetenz verfügen. Da sie Zusammenhänge sehr schnell erkennen können und über Ecken denken, können sie auftauchende schwierige und komplexe Probleme selbständig, schnell und mit kreativen Lösungswegen bewältigen.

Ich habe als Migrantin viele Jahre weder gewusst noch begreifen können, dass die Mehrheit der Bevölkerung überhaupt einen anderen Denkstil und Denktempo haben als die Hochbegabten.

Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich vor ca. einem Jahr nach einem beruflichen Vorstellungsgespräch meinen eigenen Gedankenstil bewusst wahr.

Was war genau passiert?
 
Während des vorherigen Vorstellungsgespräches trug ich in Nadelstreifen-Hosenanzug mit frisch aufgedrehten Haaren und Gedanken in vollem Elan meine Präsentation auf die berufliche Position gestellte Frage vor. Ich beantworte anschließend die Fragen von meinen zwei Gegenüber. Bei einer Frage gab ich als Antwort bestimmte Informationen mit einer großen Selbstverständlichkeit, und andere Informationen ließ ich unbewusst aus. Ich konnte nicht so schnell sprechen, wie ich denken konnte, vor allem wenn ich im intensiven Gedankenfluss und -tempo bin… So stellte ich erst kurz nach dem Gespräch fest, dass ich bei meiner Antwort bestimmte Infos über die Situation übersprang. „Meine Gegenüber muss es doch wissen, warum sollte ich es wiederholen?“, dachte ich wohl. Nein, meine Gegenüber konnten die bestimmten Informationen nicht kennen. Woher und wie denn auch?! Nach diesem Gespräch fiel es mir wie Schuppen vor den Augen, als ich erstmals den Unterschied von Denkstilen und vor allem meinen Denkstil erkannte.

In der realen und virtuellen Welt bin ich – rückblickend betrachtet – seit ca. 10 Jahren von Hochbegabten, vielbegabten Scanner-Persönlichkeiten und Hochsensiblen umgeben und in Kontakt. Seit anderthalb Jahren nehme ich mit großer Begeisterung an dem Mensa-Stammtischtreffen meines Wohnortes teil. Begegnungen und Gespräche mit Gleichgesinnten, die zudem hochsensibel sind, erlebe ich als ein Paradies auf Erden. Bei solchen Begegnungen und Gesprächen entspanne ich mich sehr, tanke energetisch, emotional und geistig auf, schlürfe an meinem imaginären Cocktail in der Oase und begebe mich anschließend der imaginären gemütlichen Hängematte. Für Normalbegabte, die Hochbegabte untereinander in solchen Gesprächen als stundenlang kreuz- und quer von einem Thema zum nächsten zu springend erleben würden, würden dieses Bild als Chaos wahrnehmen, von dem sie sich erst erholen müssten. Diesen vermeintlichen „Chaos“ erleben wiederum Hochbegabte selbst als ihre Art der Matrix- Ordnung in einer Kommunikation mit Gleichgesinnten und alles ist für sie im Einklang. Wenn man sich als Hochbegabte nach einem solchen Gespräch mit Gleichgesinnten wacher, freudiger, aufgetankter, lebensfreudiger fühlt, dann liegt es daran, dass man sich bei seinem Gegenüber verstanden und erreicht gefühlt hat.

Als Individuum wie auch als Migrantin entscheide ich bewusst oder unbewusst, in welcher Sprache und Kultur ich mir selbst begegne und mich spüre. Wenn mir z. B. ein Text, ein Gedicht, ein Zitat oder ein Wort inhaltlich identisch in zwei Sprachen vorliegt, dann kann es vorkommen, dass diese mich nur in der einen Sprache ansprechen, berühren oder gar innerlich bewegen und ich intensive Gefühle empfinde, aber in der anderen Sprache nicht. Das liegt daran, dass ich die jeweilige kulturelle und gesellschaftliche Komponente hineinfließen lasse und diese dann ihre Gewichtung zu diesem Text, Gedicht, Zitat oder Wort anspricht. Ich glaube nicht, dass man es in jeder Sprache kann.

Hochbegabt sein ist sehr schön. Hochbegabt zu sein ist auch anstrengend, wenn man mit Normalbegabten in Beziehung und Kommunikation ist. Normalbegabter erlebt Hochbegabten ebenfalls als anstrengend. Hochbegabt sein ist noch anstrengender, wenn man einen bestimmten kulturellen und geographischen Hintergrund hat. Für mich persönlich ist es fast schon gruselig, in der türkischen Gesellschaft in Deutschland eine, spät erkannte, Hochbegabte zu sein. Alles, was einheimische Hochbegabte in der deutschen Kultur und Gesellschaft erleben, erleben türkischstämmige Hochbegabte – insbesondere spät erkannte Hochbegabte – Migranten negativer in höheren Dimensionen. In Wechselwirkung mit dem starren Bildungssystem, Hochschulsystem und Arbeitswelt werden hochbegabte Migranten doppelt diskriminiert. Ich kenne zwar die Denkhaltung und Denkkultur der Mehrheit meiner eigenen Landsleute in Deutschland und die der kulturell anders basierten Migranten, aber gekoppelt an ihre traditionellen, kulturellen und religiösen Hintergründe. Ich mag keine Flaggen und geographische Grenzen, sondern verschiedene Kulturen und ihre Vielfalt.

 
 
 

Teil 3: Schlussbetrachtung

Niemand ist besser oder schlechter als die Anderen. Und niemand braucht niemandem das Wasser nicht reichen zu können. Der Andere ist wertvoll, weil er anders ist. Und es ist gleichgültig, ob der Andere der „Normalbegabte“ für den Hochbegabten ist, oder „Hochbegabte“ für den Normalbegabten ist. Die Begabung ist als Gabe bei jedem Menschen vorhanden, deshalb kann ich den Neid, die Missgunst und das Sanktionieren mancher Normalbegabte gegenüber Hochbegabten nicht nachvollziehen und auch nicht akzeptieren. Auf der anderen Seite gibt es wiederum manche Hochbegabte, die sich mit dem Label „Hochbegabung“ automatisch zur Elite der Gesellschaft zählen, ohne jegliche Verantwortung für sie zu tragen. Das gefällt mir nicht. Sie sind in meinen Augen die Hochbegabtenhaie, die sich durch das Thema Hochbegabung privat und beruflich rücksichtslos und skrupellos bereichern. Nur Wenige von uns sind fähig, schöpferisch zu denken. Die Hochbegabten, die es können und zudem noch Verantwortung für die Gesellschaft tragen, sind meines Erachtens die Elite (nicht zu verwechseln mit: Oberschicht oder Privilegierte) dieser Gesellschaft.

Ich habe die unterschiedlichen Denkstile von Normalbegabten, Hochbegabten und hochbegabten Migranten aus meiner Sicht beschrieben. Die Frage ist nicht, wer den besseren oder schlechteren Denkstil hat, sondern, wie gut man, mit dem, wie man ausgestattet ist, umgeht und/oder sein Gegenüber inspiriert. Es ist also eine Frage der eigenen Veranlagung und – mit oder ohne Förderung und Unterstützung – der optimale Umgang damit. Des Weiteren geht es um die Frage, wie man den eigenen Denkstil mit dem Denkstil seines Gegenübers kompatibel gestaltet, um eine gegenseitige fruchtbare Kommunikation zu realisieren. Ist eine Kompatibilität überhaupt möglich? Sind die Denkstile und Kommunikation der Hochbegabten mit Hochbegabten mit Migrationshintergrund ohne jegliche kulturelle Übersetzung überhaupt kompatibel? Die Unterschiedlichkeit der Denkweisen kann die Kommunikation in allen Arten von privaten und beruflichen Beziehungen erschweren, stören oder gar verhindern, da jeder der inneren Logik nur seines eigenen Denkstils folgt und sein Gegenüber nicht versteht oder selber nicht verstanden wird. Zudem fehlt das nötige Vorstellungsvermögen, um den anderen Denkstil seines Gegenübers in seinem Geist abzubilden.

Nun stellt sich für mich die Frage, wozu die verschiedenen Denkstile nützlich und sinnvoll sein könnten. Ich finde, dass unterschiedliche (Lebens-)Aufgaben unterschiedliche Denkstile verlangen. In der globalisierten und komplexer werdenden Arbeitswelt ist es von großer Bedeutung, dass die Führungskraft und/oder Arbeitgeber den Denkstil seiner hochbegabten Mitarbeiter – auch mit Migrationshintergrund – erkennt.

Die Vielfalt der Denkwelten liegt allen Arten der Denkstile zugrunde. Nach M. Temple Grandin braucht die Welt alle Arten des Denkens („The world needs all kinds of minds).“

Wann wird Denken und Denkstil zu einem Phänomen?
Wer sich neben seiner Begabung oder Hochbegabung vor allem ethisch weiterentwickelt, revolutioniert seine eigene Würde und strahlt Größe aus. Aus meiner Sicht wird erst dann Denken und Denkstil des Trägers zu einem Phänomen.

Intelligenz und Begabung reichen nicht aus, um Großes in der Welt zu bewegen und Lebenserfolg zu haben. Stellt euch „Begabung“ bildlich als einen Boden im Garten vor. Dieser Boden (= Erde) muss angepflanzt werden. Intelligenz und Begabung reichen als Anlagen nicht aus, um im leeren Garten Blumen gedeihen und wachsen zu lassen. Dazu bedürfen unbedingt das Aktiv-werden, die Begeisterungsfähigkeit, die Lebensfreude und die Fähigkeit, diszipliniert zu bleiben sowie Ziele und Träume zu befolgen, als nur rebellisch zu sein oder anzuecken. Und wenn dann noch die Gesellschaft, die Kulturen, das starre Bildungssystem und die Arbeitswelt aus ihrem Gefängnis des Geistes herauskommen würden und insgesamt authentischer, verständnisvoller, toleranter, mit einheimischen und immigrierten Hochbegabten eingestellt wären, dann wäre ich sehr glücklich.

 
 
 
cigdem guel

© Çiğdem Gül

Gründerin, Autorin und Publizistin
des „Intercultural Network For The Highly Gifted“

Diplom-Ökonomin

Interkultureller Coach für Hochbegabte & Hochsensible

Online Marketing Managerin

Freie Journalistin

 
 
 
Margarita Kareva 3

© Courtesy of Margarita Kareva (Russia)

 
 

Fußnoten

[1] Robinson, James Harvey (1949). Die Schule des Denkens – Von der Bedeutung des Verstandes für den Aufstieg der Menschheit (Originaltitel: The Mind in the Making), Seite 33.

[2] Robinson, James Harvey (1949). Die Schule des Denkens – Von der Bedeutung des Verstandes für den Aufstieg der Menschheit (Originaltitel: The Mind in the Making), Seite 40.

[3] Grandin, M. Temple (* 29. August 1947 in Boston) ist die führende US-amerikanische Spezialistin für den Entwurf von Anlagen für die kommerzielle Viehhaltung. Sie ist Dozentin für Tierwissenschaften an der Colorado State University in Fort Collins und Autistin. https://de.wikipedia.org/wiki/Temple_Grandin Quelle: Wikipedia

 

Weiterführende Literatur

Arendt, Hannah: „Vita Contemplativa“

Jaspers, Karl: „Von der Weite des Denkens“

Kaku, Michio: „Die Physik des Bewusstseins: Über die Zukunft des Geistes“

Pessoa, Fernando: „Genie und Wahnsinn“

Vester, Frederic: „Denken, Lernen und Vergessen“

Vitale, Barbara Meister: „Frei Fliegen. Eine Ermutigung für alle, die mehr intuitiv als logisch, mehr chaotisch als geordnet, mehr phantasievoll als realitätsbezogen denken und leben“

Wilson, Frank R: „Die Hand – Geniestreich der Evolution“

 
 
 
 
 

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