begabt hochbegabt schizophren: Der seelische Untergang?


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begabt hochbegabt schizophren:

Der seelische Untergang?

 

Von Çiğdem Gül

02. Dezember 2018

 
 

Die Schizophrenie gehört zu den schwersten psychischen Erkrankungen. Der schizophrene Mensch verliert die Kontrolle über seinen Verstand und über sein Gefühl. Bei schizophrenen Menschen verändern sich die Wahrnehmung, das Denken und das Fühlen ebenso wie der innere Antrieb. In vielen Fällen so stark, dass Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen meinen, einen anderen Menschen vor sich zu haben. „Tagelang ist man aufgebracht und wütend, verbringt die Nächte angespannt und voller Angst, hört Stimmen und sieht Dinge, die niemand sonst hören oder sehen kann. Und all das ist man selbst, aber auch wieder nicht – in diesen Augenblicken gibt es nur Täuschungen“, schrieb die kanadische schizophrene Schriftstellerin Margaret Gibson[1] in ihrem beeindruckenden Vorwort für ein externes Buch. „Wenn du geisteskrank bist, bist du damit beschäftigt, geisteskrank zu sein – die ganze Zeit“, ergänzt die amerikanische Dichterin Sylvia Plath das Bild über die Schizophrenen.[2]

 

Die Bezeichnung Schizophrenie stammt aus dem Griechischen s´chizein = spalten und phrēn = Seele, Gemüt, Zwerchfell. Im antiken Griechenland hielt man nämlich das Zwerchfell als den Ort der Seele. „Der Begriff Schizophrenie wurde erstmals am 24. April 1908 von dem Schweizer Psychiater Dr. Eugen Bleuler[3] (1857 – 1939) in einer Sitzung des Deutschen Vereins für Psychiatrie (DVP) öffentlich vorgestellt.“ Siehe hierzu Wikipedia. Bleulers Konzept der Schizophrenie beinhaltete, dass die Schizophrenie eine funktionelle Erkrankung ist und nicht, wie bis dahin vom deutschen Psychiater Dr. Emil Wilhelm Georg Magnus Kraepelins vertretene These, „Dementia praecox“, also verfrühte Demenz. Bleuler entwickelte seine eigenen Kriterien für die Diagnose der Schizophrenie. Der deutsche Psychiater Dr. Kurt Schneider[4] (1887 – 1967) dagegen hielt die Schizophrenie für eine Erkrankung des Ichs und des Kognitiven und entwickelte eigene Diagnosekriterien, die auch heute noch in der Medizin eine bedeutende Rolle spielen.

 

Obwohl mich das Thema Schizophrenie schon immer „fasziniert“ hatte, fiel es mir immer sehr schwer, mich in die Erlebniswelt der Betroffenen hineinzuversetzen. Es war für mich nicht nachvollziehbar, dass Erwachsene so „außer der Reihe tanzen“ konnten. Zuletzt war ich zutiefst bewegt, während ich als Diplom- Ökonomin und Rechtliche Berufsbetreuerin bei einem meiner ersten beruflichen Termine in der geschützten und geschlossenen Station einer Psychiatrischen Klinik eine russische Patientin mit stahlblauen Augen wie die einer Perserkatze die Flure auf und ab ging beobachtete. Sie hielt mit beiden Händen die Rolle eines Toilettenpapiers fest an der Brust, schwieg, wirkte apathisch, und schaute beim Auf- und Ab-Gehen – wenn sie in meine Richtung ging – mir tief in die Augen. Ich fragte mich, was diese Frau wohl in ihrem Leben durchgemacht haben muss, um so zu sein, wie sie gerade war. Und mir schien der Weg dorthin für uns alle nicht so weit entfernt. Dieser Gedanke erschrak mich damals sehr.

 

Warum wird einer `ver-rückt´?

Es gibt auch hochbegabte und höchstbegabte Genies, die an Schizophrenie erkrankt sind. Ist Schizophrenie für diese Betroffene ein seelischer Untergang?

Wie redet man überhaupt mit Schizophrenen?

Wie geht man mit ihnen um?

Sind Schizophrene wirklich gefährlich für uns?

All´ diese und weitere Fragen und Berührungsängste bestärkten mich darin, zu Beginn meiner beruflichen Selbständigkeit als Rechtliche Berufsbetreuerin[5] im Jahr 2009 freiwillig in einer Psychiatrischen Klinik einige Wochen zu hospitieren. Diese Entscheidung war für mich auch sehr wichtig vor dem Hintergrund, dass ich an Psychose und/oder schizophrene erkrankte Klienten hatte, die ich im Falle akuter Selbst- oder Fremdgefährdung in einem Psychiatrischen Fachkrankenhaus – auch gegen ihren Willen per Krankenwagen- und Polizeieinsatz unterbringen durfte. Zur Regelung und Realisierung solcher Einsätze reichte damals ein sehr kurzfristig eingeforderter und erhaltener richterlicher Gerichtsbeschluss oder die Bezugnahme des sog. Psychisch-Kranken-Gesetze (PsychKG) aus. Zu meinen Aufgaben gehörte unter anderem die Entscheidung über freiheitsentziehende Maßnahmen und deren Kontrolle gem. § 1906 Abs. 4 BGB.

Als Rechtliche Berufsbetreuerin, gem. § 1896 ff BGB, wurde ich von drei Amtsgerichten meiner Wahl per richterlichem Gerichtsbeschluss bestellt. Ich vertrat meine volljährige Klientel gerichtlich und außergerichtlich. 

Meine wochenlange Hospitation in der geschützten und geschlossenen Station einer Psychiatrischen Klinik als Rechtliche Berufsbetreuerin und meine fünfjährige Berufserfahrung mit der Gruppe der schizophrenen Klientel ließen meine Vorurteile und Berührungsängste minimieren. Außerdem entwickelte ich im Laufe der Zeit sehr feine Antennen bei Schizophrenen, um die kleinsten Signale zu erkennen, damit ich mich bei Gefahr rechtzeitig schützen kann.

 
 
 
2018-08-08 20_01_29-Las Vegas Photographer (@oscarpicazophotographer) • Instagram-Fotos und -Videos

© Courtesy of Oscar Picazo (Las Vegas / USA)

 
 

Mit meinem vorliegenden Artikel möchte ich das öffentliche und überwiegend mit Vorurteilen behaftete Bild über die Schizophrenen in der Gesellschaft korrigieren. Des Weiteren interessiert es mich, ob Kreativität, Hochbegabung und Genialität mit Schizophrenie korreliert. Damit bei meinem vorliegenden Artikel das Thema der Schizophrenie nicht nur bei theoretischen Erklärungen in der Literatur bleibt, habe ich aktuell persönlich ein Fachgespräch mit einem Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse geführt. Darin beantwortete er mir – vor allem auch mit Praxisbezug – meine noch offen stehenden medizinischen Fragen zum Thema.

Ich fühle mich und meine Arbeiten von ihm sehr wertgeschätzt.

Ich danke Ihnen vielmals für Ihre wertvollen Antworten, die ich mit Ihrer ausdrücklichen Erlaubnis und Ihrem Wunsch entsprechend anonym veröffentliche.

 
 
 

Fachgespräch mit einem Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse

 

Rund ein Prozent der Bevölkerung entwickelt im Laufe des Lebens eine Schizophrenie. Sie ist nicht heilbar, jedoch medikamentös zu behandeln. Während meiner monatelangen Recherche las ich unter anderem sinngemäß folgende Informationen: „Bei der Entstehung einer Schizophrenie spielt die dafür günstige genetische Veranlagung eine erhebliche Rolle. Genetische Faktoren allein reichen jedoch nicht aus, damit eine Erkrankung ausbricht. Zu den weiteren Faktoren gehören leichte Hirnstrukturanomalien (Veränderung bestimmter Hirnstrukturen), vorangegangene Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, die zu einer Entwicklungsbeeinträchtigung und damit zu begrenzten Bewältigungsmöglichkeiten des Individuums führen. Das Gehirn befindet sich in einer bestimmten Phase der Erkrankung in einer Art Stresssituation. Die ständig eingehenden optischen und akustischen Umweltinformationen sind dann zu viel. Es schaltet praktisch einen Filter ein, der die Bedeutung des Wahrgenommenen verschiebt. Die Wahrnehmung wird `ver-rückt´. Man kann auch sagen, dass der Informationsfilter des gesunden Unterbewusstseins wegfällt. Es ist ein Phänomen und muss ganz tief in unserer Gehirnfunktion verankert sein. Diese Gehirnregionen, die uns unter normalen Bedingungen von den verschiedensten für uns zweitrangigen Informationen abschotten, so dass wir uns zum Beispiel auf einen Sachverhalt konzentrieren können – sie funktionieren bei Schizophrenen nicht mehr richtig.

 
 

Çiğdem Gül: Gibt es aus Ihrer Sicht neben den bisher bekannten Ursachen auch andere Ursachen für die Entstehung von Schizophrenie?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Bei den mir bekannten Kranken in der Psychiatrischen Klinik gab es immer auch eine traumatische Vorgeschichte. In der Psychoanalyse ist Schizophrenie auch Folge einer Regression auf eine entwicklungspsychologisch früheste Ebene von Ich- und Welt-Erleben, wo Verfolgung und Vernichtungsangst quasi „normal“ sind. Alle Menschen durchlaufen solche Formen des Erlebens, es bleiben bei gelingender elterlicher Versorgung keine Schäden zurück.

 

Çiğdem Gül: Gibt es Studien oder Praxisbeispiele, die belegen, dass sehr intelligente und/oder sehr sensible Menschen eher an Schizophrenie erkranken?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Das ist mir nicht bekannt. In meiner Berufserfahrung habe ich „sensible“ und „nicht-sensible“ Kranke kennengelernt. Diese Attribute beziehen sich aber nur auf den äußeren Eindruck, ich hatte nicht die Gelegenheit, diese Personen tiefer gehend persönlich kennenzulernen. Ich vermute aber, dass es tatsächlich einer gewissen Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Verletzlichkeit) bedarf, die auch positive Seiten hat: eben eine höhere Sensibilität und Kreativität. Siehe bspw. die Arbeiten von Poliakov über die reichere Assoziation bei bestimmten Wortassoziationstests bei Schizophrenen und Künstlern im Vergleich zum Normalmenschen.

 

Çiğdem Gül: Çiğdem Gül: Bedeutet Schizophrenie gespaltene Persönlichkeit oder Zusammenbruch der Persönlichkeit?
Falls gespaltene Persönlichkeit: Wie viel ist von der Gesamtpersönlichkeit in beiden Persönlichkeiten abgebildet? Gibt es einen gemeinsamen Kern der beiden Persönlichkeiten des Schizophrenen? Wenn ja, wie groß ist der gemeinsame Kern der beiden Persönlichkeiten?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Nein, nur in schweren Fällen. Es gibt viele Menschen, die neben dem kranken Persönlichkeitsanteil eine sehr gesunde und luzid denkende Persönlichkeit besitzen. Nur in sehr schweren Fällen kommt es tatsächlich zu einer weitgehenden Zerstörung der Persönlichkeit. Psychoanalytisch sind es abgespaltene Teile der eigenen Persönlichkeit, die die ursprüngliche Persönlichkeit überschwemmen. Das Fremde ist also nicht vollkommen fremd.

 

Çiğdem Gül: Wissen Schizophrene, dass sie schizophren sind?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Viele Patienten besitzen „Krankheitseinsicht“, für viele ist ein wesentlicher Teil der Behandlung, diese zu entwickeln. Andere erlangen sie nicht.

 

Çiğdem Gül: Der Schizophrene lebt mit mindestens zwei Realitäten. Er nimmt seine momentane Realität als die einzige Realität authentisch wahr. Wenn Schizophrene in zwei sich real anfühlenden Realitäten leben: Sind sie sich dessen bewusst?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Manche ja, manche tauchen ganz und gar in die Wahnwelt ab.

 

Çiğdem Gül: Wenn Schizophrene zwischen mindestens zwei Realitäten leben und diese nicht unterscheiden sollten: Wie sollen sie zwischen Traum und Realität unterscheiden?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Manche können es nicht. Das hat oft mit der Intensität der archaischen Vernichtungsängste zu tun. Je weniger der Schizophrene Angst hat, desto besser funktioniert die Realitätsprüfung.

 

Çiğdem Gül: Können Schizophrene Vertrautes plötzlich als unvertraut erleben. Wenn ja, warum?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Schizophrene können Vertrautes plötzlich als unvertraut erleben. Dies hängt mit der eingangs erwähnten Regression zusammen, wo im Erleben die Welt noch einmal ganz fremd und bedrohlich erscheint, weil der Mensch sich wie quasi gerade geboren fühlt und alles vollkommen unbekannt und unheimlich ist.

 

Çiğdem Gül: Schizophrene haben ein verändertes Realitätserleben. Warum sehen Schizophrene UFOs, Geheimdienste, gefährliche Strahlen, Außerirdische etc., und nicht Ente, Pfanne oder rosa Elefanten?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Der schizophrene Mensch erlebt eine „unheimliche“ Bedrohung, die aus inneren Quellen stammt und die er nach außen projiziert, um sich auf diese Weise vor ihnen schützen oder sie offensiv bekämpfen zu können. Das Angsterregende besitzt die Qualität einer ebenfalls „ungeheuren“ Fremdheit, für die der Betroffene aus Realität und in der Phantasie passende Bilder sucht. Rosa Elefanten und Pfannen sind zu irdisch, zu normal, zu harmlos. UFOs, Geheimdienste, gefährliche Strahlen etc. dagegen verkörpern viel besser das Unheimliche und das Ungeheure, dass im Inneren dieses Menschen entbunden ist. Je grässlicher das Angstobjekt, desto grässlicher die erlebte Angst.

 

Çiğdem Gül: Schizophrene und an Psychose leidende Menschen haben Halluzinationen in Form von Stimmenhören. Das sind dialogische, kommentierende und befehlende Stimmen. Bei gleichzeitig gehörten mehreren Stimmen, sind diese Stimmen in Dialog, Diskussion oder sogar in Streitgespräch miteinander. 

Meine damaligen betroffenen Klienten teilten mir damals mit, dass die Stimme in ihrem Kopf dahingehend wechselte, dass entweder eine Frauenstimme oder eine Männerstimme oder die Stimme eines Kindes oder alle gleichzeitig zu ihnen sprachen und teilweise in imperativer Form.

Meine betroffenen Klienten mit Migrationshintergrund gaben mir die Rückmeldung, dass sie akustische Halluzination in einer Sprache hören, die sie auch verstehen konnten. Ein schizophrener Migrant, der in Deutschland lebt, aber kein Deutsch versteht, hört also akustische Halluzination nicht auf Deutsch, sondern in seiner Muttersprache. 

Mich interessiert es, ob bilinguale Schizophrene dialogische, kommentierende und befehlende Stimmen auch abwechselnd in verschiedenen Sprachen hören können.

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Darüber weiß ich nichts. Es wird sicherlich Literatur dazu geben.

 

Çiğdem Gül: Ich hatte als selbständige Rechtliche Berufsbetreuerin bei schizophrenen Klienten ihre jeweilige Realität nicht als Krankheit betrachtet, sondern als einen Teil von Ihnen, die ich in meine Gespräche mit einbezog. Ich zeigte ehrlich und authentisch Interesse an der momentanen jeweiligen Realität des Betroffenen, einschließlich der sie begleitende Gefühle. Schizophrene hören Stimmen, die andere nicht hören können, unter anderem ihnen befehlende Stimmen. Wenn ich im Gespräch die Signale wahrnahm, dass meine Klienten gerade Stimmen im Kopf hörten, fragte ich sie: „Hören Sie gerade wieder Stimmen? Ich kann diese Stimmen nicht hören, aber ich glaube Ihnen, dass Sie diese Stimmen hören können. Erzählen Sie mir bitte darüber. Was genau sagen Ihnen diese Stimmen?“

Warum gibt es imperative Stimmen? Warum befehlen imperative Stimmen im Kopf des Schizophrenen, dass er sich oder jemand anderen umbringen soll?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: In den imperativen Stimmen bildet sich das ab, was der Gründer der Psychoanalyse Sigmund Freud da “Über-Ich“ nannte, jenen „Stufe im Ich“, die es ermöglicht, mit sich selbst in ein Verhältnis zu treten. Das Über-Ich bildet sich früher als Freud dachte und ist umso strenger, je traumatischer die frühen Kindheitserfahrungen sind. Es ist denkbar, dass es bei maximaler Strenge des Über-Ich und genetischer Disposition zu Halluzinationen kommt (Stimmenhören ist weiter verbreitet als Schizophrenie). Die tödliche Botschaft bestimmter Stimmen geht meines Erachtens zurück auf die Wahrnehmung des Kranken, nicht erwünscht zu sein und deshalb unter seiner bloßen Existenz in sehr quälender Form schuldhaft zu leiden. In Identifikation mit der Umwelt, die ihn nicht haben wollte/ von der er sich nicht erwünscht fühlt (kann auch eine falsche Überzeugung sein), befiehlt der Mensch sich, sich zu töten. Dieser autodestruktive Impuls kann auch nach außen projiziert werden.

 

Çiğdem Gül: Schizophrene haben oft Sehnsuchtsthemen. Zum Beispiel: „Ich werde vom Marsmenschen abgeholt, der mir helfen wird!“ und Abhörrängste. Sie vermuten, dass jemand sie ständig abhört. Schizophrene vermuten die Verfolgung der eigenen Person.

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Ein schizophrener Mensch sehnt sich in seiner ungeheuren Angst natürlich immens nach Schutz und Trost. Er sucht daher wie besessen nach allem, was Sicherheit zu vermitteln scheint, ohne dass es ihm wirklich helfen kann. Damit ist er, wie mit den „Gründen“ und „Objekten“ seiner Angst, ständig beschäftigt. Sein Wahn ist in gewisser Weise schon der halbe Weg zur Heilung, weil er überhaupt „etwas“ hat, das seine Gefühle „containt“ (aufnimmt und beherbergt) und das ihm, wenn auch nur quasi imaginäre Handlungsmöglichkeiten gibt. Dieses „Etwas“ verleiht ihm quasi korrespondierend ein kohärentes Selbst (= Erleben eigener Gestalthaftigkeit und Geschlossenheit), sozusagen als eine „Identitätprothese“. Die Kohärenz ist aber durch die Angst ständig bedroht, die zeigt sich an den sog. „Ich-Störungen“, dem Erleben von Abgehört-werden, Bestrahlt-werden, Gedankenentzug und Gedankeneingebung. Ohne eine nachhaltige Angstmilderung – hier sind bspw. Medikamente in fast allen Fällen unverzichtbar – aber bleibt er auf halbem Wege stecken.

 

Çiğdem Gül: Es gibt auch Schizophrene, die in die Identifikation mit einem Objekt oder Person gehen… z. B. „Ich bin Jesus!“

Während meiner Tätigkeit als Rechtliche Berufsbetreuerin erzählte mir ein Kollege seine folgende Anekdote: „Ich schaltete mich für einen muslimischen Klienten auch als Rechtsanwalt ein. Am Tag seines Gerichtstermins saß ich mit ihm im Gerichtssaal. Der Richter redete und redete… und ich hörte ihm aufmerksam zu… bis wir alle plötzlich feststellten, dass mein Klient nicht mehr auf seinem Platz saß, sondern mitten im Saal auf dem Boden. Er hatte tatsächlich seinen Gebetsteppich auf dem Boden ausgebreitet und fing an, auf Arabisch zu beten. Sein religiöser Wahn ging soweit, dass er auch draußen beim Überqueren der Straße plötzlich seinen Gebetsteppich auf dem Boden ausbreitete und zu Beten begann, während ich erzählend ahnungslos weiterging, weil ich davon ausging, dass er neben mir auch die Straße überquerte…“ 

Würden Sie mir bitte erklären, warum und wie ein religiöser Wahn entsteht?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Religiöser Wahn kommt zumeist in der wahnhaften Depression als Hauptkategorie vor, wo der Kranke die arme sündige Kreatur ist. In der Schizophrenie oder schizoaffektiven Psychose als Übergangsform zwischen beiden, ist es nicht selten so, dass der Kranke den Gottespol einnimmt, sich also selbst als Erlöser fühlt. Beides lässt sich psychoanalytisch erklären, indem man annimmt, dass jeder Mensch in frühester Kindheit phasenweise Momente hat, wo er den anderen Menschen als Gott und sich als erbärmliche Kreatur fühlt, die auf die Erlösung und Auserwählung durch den Gott hofft. Dass ist sozusagen das innere Erleben des Säuglings dessen, was von außen als mütterlich/elterliche Zuwendung zu beobachten ist. Wenn in dieser Zeit etwas falsch gelaufen ist, bilden sich sog. Fixierungen, d. h. Gefühle großer Mächtigkeit, die sich nicht weiterentwickeln und normalisieren konnten, sozusagen zu weltlichen Gefühlen weiterreifen konnten, sondern, die mit der archaischen religiösen Wucht weiterbestehen und zunächst nur verdrängt werden können. Wenn dann im Erwachsenenalter etwas passiert, was unbewusst an diese Fixierungsstellen rührt, bspw. eine schwere Ohnmachtserfahrung, oder auch eine drogenbedingte Schwächung der seelischen Abwehr, dann können diese religiösen Erlebnisformen plötzlich wieder in das Bewusstsein des Betroffenen einbrechen und dort zu einer wahnhaften Verzerrung der Realität führen. Das ist aber nicht automatisch bei jedem der Fall. Ob es diesen Weg nimmt, hängt wahrscheinlich eben von der genetischen Disposition ab. Es gibt auch Menschen, die gegenüber solchen Bedrohungen äußerst robust sind. Das bedeutet auch nicht zwangsläufig, dass die weniger sensibel sind. Menschen sind eben sehr vielfältig in ihrer Disposition, Begabungen, ihren Resilienzen und Vulnerabilitäten. 

 

Çiğdem Gül: Welche Krankheitsverläufe gibt es?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Die Krankheitsverläufe sind vielfältig. Von Einzelepisode bis schwere destruktiven Verläufen ist alles beobachtet worden. Bei schwererer Symptomatik gibt es bei Schizophrenen oft unaufhaltsame allmähliche Verschlechterung.

 

Çiğdem Gül: Welche Besonderheit haben intelligente oder hochbegabte Schizophrene, außer ihrer Begabung?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Intelligente Schizophrene können oft sehr gut Auskunft geben über die inneren Zusammenhänge zwischen Wahn und Angst, früher Traumatisierung und der Dynamik der innenseelischen Kräfte. Bei ihnen findet sich ein ausgeprägter Sinn und oft erstaunliche Luzidität für das Unbewusste, wie er beim Normalmenschen meist nicht zu finden ist. Sie sind Spezialisten der Inneren Erfahrung im Gegensatz zum Normalen, der meist mit den Dingen der Welt beschäftigt ist.

 

Çiğdem Gül: Wie begegnen und erleben sich Schizophrene – auch interkulturell – untereinander?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Begegnungen unter akut schizophrenen Menschen gibt es eigentlich nicht, sie sind in ihrer Welt. Ich vermute, dass das kulturell und religiös Trennende auch hier überwiegt, dass also auch Grund der Erkrankung nicht plötzlich einen Ähnlichkeit untereinander festgestellt wird, wie bspw. beim Hören von Musik, wo diese Grenzen sich schnell verlieren können.

 

Çiğdem Gül: Gibt es blinde oder taubstumme Schizophrene? Wenn ja, wie erleben sie ihre Erkrankung und wie verhalten sie sich in der Außenwelt?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Darüber weiß ich leider nichts. Auch hier gibt es sicherlich Fachliteratur.

 

Çiğdem Gül: Worunter leiden nach Ihrer Ansicht die Schizophrenen am meisten?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Schizophrene leiden im Schub an den Qualen der Angst, danach oft schwere Depression, bei Chronifizierung ist sicher die Einsamkeit zu nennen.

 

Çiğdem Gül: Was sind die Folgen der Schizophrenen Erkrankung?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Soziale Beeinträchtigungen infolge von Antriebslosigkeit. Die Krankheit führt zur Prestige- Einbuße und verhindert private und berufliche Chancen und zieht soziale Isolation nach sich.

 

Çiğdem Gül: Muss man vor Schizophrenen Angst haben?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Nein. In Einzelfällen kann die Schizophrenie die Gewaltneigung erhöhen, vor allem wenn Drogen oder Alkohol im Spiel sind. Aber die meisten Straftaten werden nicht von Betroffenen begangen und die meisten schizophrenen Patienten sind keine Straftäter. Insbesondere ein gut behandelter Patient stellt keine Gefahr für andere dar.

 

Çiğdem Gül: In der Gesellschaft scheut man sich, mit einem Schizophrene eine Partnerschaft einzugehen, weil man glaubt, dass Schizophrene zu Liebe, Leidenschaft und Partnerschaft nicht fähig seien. Das mag auf der einen Seite wahr sein, aber auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass Liebe und Leidenschaft ein großer Teil des schizophrenen Lebens ausmacht.

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Den meisten Menschen machen Schizophrene Angst. Sie suchen aber selbst Sicherheit in einer Beziehung. Wenn man sich seiner selbst sicher genug ist, kann man auch mit einem schizophrenen Menschen Liebesbeziehung führen. Habe ich während der Zeit meiner Tätigkeit in der Psychiatrischen Klinik mehrfach erlebt.

 

Çiğdem Gül: Welche Folgen hat ein Kind in seiner Entwicklung zu tragen, das bei einer schizophrenen Mutter aufwächst?

Der Facharzt für Psychiatrie und Psychoanalyse: Ein Kind, das bei einer schizophrenen Mutter aufwächst, hat meist schwerwiegende seelische Beeinträchtigungen zu tragen, die zumindest die allgemeine Leistungsfähigkeit betreffen. Aber auch hier gilt: Es gibt nicht wenige, die an solch schwierigen Eltern gewachsen und über sich hinausgewachsen sind. Dies hat mit Begabung, mit Ersatzpersonen, mit Zufällen und eigenen Entscheidungen des Betroffenen zu tun.

 

Çiğdem Gül: Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch, für Ihre wertvollen Antworten und für Ihre große Unterstützung, mit unserem Beitrag das öffentliche und überwiegend mit Vorurteilen behaftete Bild über die Schizophrenen in der Gesellschaft zu korrigieren und richtigzustellen.

 
 
 

Schlussbetrachtung

 

Nach meiner wochenlangen Hospitation in der geschützten und geschlossenen Station einer Psychiatrischen Klinik war ich entgegen meiner eigenen Erwartung nicht schockiert über die schizophrenen Patienten, sondern über einige Ärzte und Psychiater sowie einer Psychologin. Ich erlebte sie im Umgang mit den Patienten kalt wie ein Gefrierschrank, desinteressiert wie eine Spinne an der Wand, grob und unmenschlich wie ein Godzilla im Porzellanladen. Ich möchte nicht sagen, dass sie unprofessionell gearbeitet hätten, auch wenn sie in Akut-Situationen die Patienten im Rahmen der Gesetze auch gegen den Willen ans Bett fixieren mussten, sondern, es geht generell um ihre Art und Weise, um ihr ständiges Lästern und Demütigen der Patienten. Aus einer sicheren und internen Quelle weiß ich, dass die zuständige Ärzte-Lobby dauerhaft den Trend in dieser Psychiatrischen Klinik setzt. Im Zeitraum meiner beruflichen Hospitation sei der Trend, dass allen Patienten keine Zuwendung gegeben werden durfte, sondern dafür umso mehr bunte Pillen. Wie oft wurde ich anschließend von Psychiatern und Ärzten mit bösen Blicken und vorwurfsvollen Worten umzingelt, nur weil ich zuließ, dass einige Patienten auf eigenem Wunsch mit mir etwas länger reden konnten.

 

Schizophrene sind keine Monster.

Die schwere psychische Erkrankung Schizophrenie hätte fast jeden von uns treffen können. Daher sind Unverständnis und Überheblichkeit mancher vermeintlich Gesunden den Betroffenen gegenüber fehl am Platz. Ich möchte Dich dazu einladen, Dein bisheriges Bild über die Schizophrenen zu überdenken, und schizophrene Menschen mit evtl. vorhandenen Vorurteilen, Ausgrenzung etc. nicht zusätzlich zu belasten. Dein Umgang mit ihnen sollte von Respekt und Wertschätzung geprägt sein. Mir ist bewusst, dass es für Angehörige von Betroffenen sehr schwierig ist, den richtigen Umgang zu finden, weil das Thema eine gesamte Familie und Umfeld sehr belasten und einschränken kann. 

In der Gesellschaft gibt es die vorherrschende Meinung, dass Schizophrene nur wirres Zeug reden würden. Auf dem ersten Blick stimmt es auch. Man sollte jedoch Schizophrene genau beobachten. Auf dem zweiten Blick oder bei näherem Kontakt stellt man häufig fest, dass man von einem begabten, hochbegabten und höchstbegabten Schizophrenen auch viel lernen kann, weil er auch sehr wichtige Wahrheiten ausspricht. In manchen gesellschaftskritischen z. B. amerikanischen Filmen werden an solchen Szenen und Dialogen nicht gespart. Der hochbegabte Nobelpreisträger und Mathematiker John Nash ist ein schönes Beispiel dafür.

Ein Vorurteil der Mehrheitsgesellschaft ist es, dass Schizophrene eine Gefahr und Bedrohung für die Gesellschaft seien. Fakt ist, dass die Mehrheitsgesellschaft eine Gefahr für die Schizophrenen ist. Weltweit werden Kriminalität und Morde fast nur von den vermeintlich Gesunden oder Nicht-Schizophrenen begangen. Entgegen allen Vorurteilen werden schizophrene Patienten selten gewalttätig – allenfalls, wenn sie gleichzeitig drogenabhängig sind, ergaben Studien.

Ich erlebte privat und während meiner fünfjährigen selbständigen Tätigkeit als Rechtliche Berufsbetreuerin für drei Amtsgerichte die Gruppe meiner schizophrenen Klientel als sehr sensible Menschen. Unser respektvoller, achtsamer, wertschätzender und integrativer Umgang mit ihnen ist von großer Bedeutung. Das größte Hindernis, Schizophrene in der Gesellschaft zu integrieren, sind wir die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft selbst.

Insbesondere auf Kollektiv basierende Kulturen und Gesellschaften wird das Image der Einzelnen und das einer Familie sehr großgeschrieben, daher wird gerne von Normalos die Doppelmoral mit großer Leidenschaft ausgelebt. In solchen Kulturen sind Schizophrene doppelt bestraft, weil die Erkrankung nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern für die gesamte große Familie ein immens großer Gesichtsverlust bedeutet. Mir sind Fälle bekannt, bei denen solche Familien mit aller Kraft kollektiv versuchen, die Schizophrenie des Familienangehörigen den Außenstehenden zu verheimlichen oder zu verschleiern. Es geht soweit, dass z. B. eine mir bekannte türkische Familie sogar einem ahnungslosen Mädchen ihren an Schizophrenie erkrankten Sohn verkuppelte, seine Erkrankung ihr bis zur ihrer Eheschließung arglistig kollektiv verschwieg. 

Für die Gruppe der begabten, hochbegabten und höchstbegabten Schizophrenen, denen bewusst ist, dass sie mit mindestens zwei Realitäten, mit akustischer und visueller Halluzination, in wiederkehrende Angst und Wahn leben müssen, fühlt sich die Schizophrenie an wie ein seelischer Untergang. Die gute Nachricht ist, dass langfristig mit medikamentöser Behandlung diese Erkrankung gut in den Griff zu bekommen ist.

 
 

Kann man eine Karriere als Professorin machen und gleichzeitig an Schizophrenie erkrankt sein? Elyn Saks kann. Und nicht nur das: Sie hat einen Bestseller über ihre Erfahrungen geschrieben und ein Institut für Ethik in der Psychiatrie gegründet.

Siehe den folgenden Artikel von Astrid Viciano bei Zeit Online

https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/03/schizophrenie-elyn-saks

Ich möchte unseren weltweit begabten, hochbegabten und höchstbegabten Mitgliedern und Besuchern, die an Schizophrenie oder an einer anderen Form der Psychose erkrankt sind, folgendes sagen:

„Du bist bei uns herzlich willkommen!

Mein Team des `Intercultural Network For The Highly Gifted´ und ich möchten dich dazu einladen, in unserer gleichnamigen Facebook- Community mit aktiver Teilnahme an den Dialogen und mit eigenen Beiträgen, uns deine Welt und innere Welt selbst vorzustellen.“

 

Herzlichst in Freude und Interesse, wo immer du gerade bist.

 
 
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© Çiğdem Gül

Gründerin & Moderatorin
des Interkulturellen Netzwerkes für Hochbegabte

Diplom-Ökonomin

Change Management Consultant

Business Coach

Interkultureller Coach für Hochbegabte & Hochsensible

Online Marketing Managerin

Freie Journalistin

http://cigdemguel.de/

 
 
 

Fußnoten

 

[1] Margaret Gibson (* 1948 in Toronto, Ontario, Kanada; † 2006, ebenda): Schizophrene Schriftstellerin. Siehe auch ihr Buch „The Butterfly Ward“ („Die Station der Schmetterlinge“)

[2] Sylvia Plath (* 27. Oktober 1932 in USA; † 11. Februar 1963) war eine amerikanische Schriftstellerin.

[3] Dr. Eugen Bleuler (1857 – 1939): Die Prognose der dementia praecox (Schizophreniegruppe). In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. 1908, S. 436–464.

[4] Dr. Kurt Schneider (1887 – 1967): gilt als einer der wichtigsten, auch international bedeutenden deutschen Forscher im Bereich der Psychopathologie.

[5] Rechtliche Berufsbetreuung: Siehe Definition bei Wikipedia

 

Weiterführende Literatur

 

K. Dörner, U. Plog, c. Teller, F. Wendt: „Irren ist menschlich“ – Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrie-Verlag, 2010

H. Green: „Ich hab Dir nie den Rosengarten versprochen“, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt), 2004